Hommage an Kafka
I
Als Annette eines Morgens aus lummeligem Traumschlaf erwachte, fand sie sich in ihrer Blattschneise zu einem widerwärtigen Säuger verwandelt. Sie lag auf ihrem porendurchwirkten weichen Rücken und sah, sobald sie ihr Kopfteil ein wenig hob, ihren glatten, rosafarbenen, von schlabbrigen Weichteilen ausgefüllten Bauch, auf dessen Fläche sich einzelne feucht-kalte Blattreste, klebrig daran haftend, abzeichneten. Ihre klobigen, im Vergleich zu ihrem sonstigen Umfang fetten Beine lagen ihr hilflos vor den Augen.
„Was ist mit mir geschehen?“, dachte sie. Es war kein Traum. Die Umgebung, eine schöne, nur etwas zu helle Blattschneise am Waldrand, lag ruhig zwischen dem wohlbekannten Unterholz. Über dem Boden, auf dem zahlreiche Exkremente, Insektenstaub und Reisigabfälle ausgebreitet waren – die Schabe war eine ausgewachsene Allesfresserkakerlake – lag der Spinnenkadaver, den sie vor kurzem als Überrest einer Winterstarre gefunden und in einer kleinen, von nasskalten Blättern bedeckten Erdmulde untergebracht hatte. Es handelte sich um eine Weberknechtspinne, die mit einem grau-braunen Torso versehen, aufrecht erfroren war und ihre Beinchen, die saftig davon abstanden, gen Himmel streckte.
Der Blick der Schabe richtete sich dann zur zum Wald hin weisenden Öffnung der Blattschneise, und das wunderschöne Wetter – man sah gleißende Lichtsäulen in verschiedenstem Durchmesser sich schräg durch das Walddickicht schlagen – machte sie ganz mürrisch. „Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterruhte und alle Narrheiten vergäße“, dachte sie, aber das war gänzlich unmöglich, denn sie war ja gewöhnt, auf dem Bauch zu schlafen, konnte sich aber in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft sie sich auch von der Rücklage, in der sie sich befand, zu befreien suchte, immer wieder glitt der schwere Körper in die ursprüngliche Position zurück. Sie versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die klobigen tonnenschweren Gliedmaße nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als sie einen dumpfen Druckschmerz im Unterleib zu fühlen begann.
„Ach herrje“, dachte sie, „was für ein anstrengendes Schicksal mich da getroffen hat. Tag aus, Tag ein auf Ungeziefersuche. Die Suche nach Essensresten und Mitessern ist viel beschwerlicher, als zu Hause im Kellerloch, und außerdem ist mir noch diese Plage des Herumschwirrens auferlegt, die Sorgen um die richtigen Wege, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender insektoider Verkehr. Der Teufel soll das alles holen, jawohl!“ Sie fühlte ein lichtes Stechen unterhalb ihres Rückens; schob sich langsam näher zum Blattschneiseende, um den Kopf besser heben zu können; fand die stechende Stelle, die mit lauter roten Pusteln besetzt war, die sie nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Arm die Stelle betasten, zog ihn aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten sie Kälteschauer.
Sie glitt wieder in ihre frühere Lage zurück. „Dies ständige Umherwuseln“, dachte sie, „macht einen ganz blödsinnig. Jede Schabe muss ihr Gebiet haben. Andere Schaben leben wie im Schlaraffenland. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Tages an den Holzfällerdamm krieche, um neuen Insektenüberreste zu suchen, suhlen sich diese anderen Schaben noch in den Abfällen des Försterabendessens. Das sollte ich mal versuchen, ich würde sofort von den Försterschaben geknechtet werden. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst das Revier gewechselt, ich wäre vor die Försterschaben hingetreten und hätte ihnen meine Meinung von Grund auf gesagt. Aus ihren Fettmulden hätten sie fliegen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich so in die Fettmulden zu legen und wie die Made im Speck über mich herzuziehen, da ich mir überdies wegen des löchrigen Bodens im Holzfällervorraum holprig und steinig meinen Weg suchen muss. Nun, die Hoffnung ist ja noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal genug Vorräte zusammen, um die Schuld der Eltern an sie abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Kalender dauern – , mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muss ich aufstehen und wuseln, denn jetzt ist die beste Zeit, um sich auf die Suche zu machen.“
Und sie sah zu der Borke der benachbarten Bäume hinüber, die bereits von breiten Sonnenstrahlen beschienen waren. „Fürchterlicher Stamm!“, dachte sie. Es musste vorangeschrittener Vormittag sein und das Licht wurde nun immer strammer. Sollte die lichte Walduhr versagt haben? Man sah von der Blattschneise aus, dass die Bäume bald im Zenit erstrahlen würden. Ja, aber war es möglich, diesen alldurchdringenden Lichtschein zu verschlafen? Nun, ruhig hatte sie ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester. Was aber sollte sie jetzt tun? Die nächste Gelegenheit bot sich wohl erst wieder gegen Abend und die vormittägliche Insektenansammlung am Waldsaum würde sich schon längst wieder aufgelöst haben. Zudem fühlte sie selbst sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich. Und selbst wenn sie noch Insektenreste antreffen würde, die für die Eltern notwendige Futtermenge würde sie nun nicht mehr anhäufen können, ganz zu schweigen von den Abgaben an die Försterschaben. Das waren ja Kreaturen ohne Rücksicht. Wie nun, wenn sie sich krank oder verletzt stellte? Das wäre allerdings äußerst peinlich und verdächtig, denn sie war zuvor während 10 Kalendern noch nicht einmal krank oder verletzt gewesen. Gewiß würden die Forstschaben sie finden, ihren Eltern wegen der faulen Schabe Vorwürfe machen und alle Einwände durch den Hinweis auf die Umstände abschneiden, immerhin war der Unmut der Forstschaben gegenüber diesem Sachverhalt allgemein bekannt. Die Schabe fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger.
Als sie dies alles in größter Eile überlegte, ohne sich entschließen zu können, die Blattschneise zu verlassen – gerade sah sie das helle Licht der Borke bis an die ersten Wipfelausläufer heraufkriechen – raschelte es sachte an den Ausläufern der Schneise.
„Annette“, rief es – es war die Mutter – , „es ist schon spät. Wolltest du nicht wuseln gehen?“ Die sanfte Stimme! Annette erschrak, als sie ihre antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar die ihre frühere war, in die sich aber, wie von oben her, ein nicht zu unterdrückendes, kraftvolles Krächzen mischte, das die Worte förmlich nur im ersten Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im Nachklang derart zu zerstören, dass man nicht wusste, ob man recht gehört hatte. Annette hatte ausführlich antworten und alles erklären wollen, beschränkte sich aber bei diesen Umständen darauf, zu sagen: „Ja, ja, danke, Mutter, ich stehe schon auf.“ Infolge des dämpfenden Blattwerks war die Veränderung in Annettes Stimme draußen wohl nicht zu merken, denn die Mutter beruhigte sich mit dieser Erklärung und raschelte davon. Aber durch das kleine Gespräch waren die anderen Familienmitglieder darauf aufmerksam geworden, dass Annette wider Erwarten noch in der Blattschneise war, und schon raschelte es von der anderen Seite her, es war der Vater: „Annette, Annette“, rief er, „was ist denn?“ Und nach einer kleinen Weile mahnte der nochmals mit tieferer Stimme: „Annette! Annette!“ An der anderen Seite aber klagte leise der Bruder: „Annette? Ist dir nicht wohl? Brauchst du etwas?“ Nach beiden Seiten hin antwortete Annette: „Bin schon fertig“, und bemühte sich, durch die sorgfältigste Aussprache und durch Einschaltung von langen Pausen zwischen den einzelnen Worten ihrer Stimme alles Auffallende zu nehmen. Der Vater kehrte auch zu seinem Frühstück zurück, das Annette gestern für alle in einem Tagwerk eingesammelt hatte. Der Bruder aber flüsterte: „Annette, mach los, ich beschwöre dich.“ Annette aber dachte gar nicht daran loszumachen, sondern lobte die vom Wuseln her als bewährt erfahrene strikte Einteilung einzelner Blattschneiseparzellen für jedes der Familienmitglieder.
Zunächst wollte sie ruhig und ungestört aufstehen, sich fertig machen, die Fühler lecken und vor allem frühstücken, und dann erst das Weitere überlegen, denn, das merkte sie wohl, in ihrer Schneise würde sie mit dem Nachdenken zu keinem vernünftigen Ende kommen. Sie erinnerte sich, schon öfters in der Schneise irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufwachen als reine Einbildung herausstellte, und sie war gespannt, wie sich ihre heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden. Dass die Veränderung der Stimme nichts anderes war, als der Vorbote einer tüchtigen Gliederentzündung, nichts Ungewöhnliches bei ihrem derzeitigen Wuseln und Sammeln, daran zweifelte sie nicht im Geringsten.
Die letzten Blätter abzuwerfen war ganz einfach; sie brauchte sich nur ein wenig aufzublasen und sie fielen von selbst- Aber weiterhin wurde es schwierig, besonders weil sie sich so ungemein schwer anfühlte. Sie hätte Beinchen und Fühler gebraucht, um sich aufzurichten; statt dessen aber hatte sie nur diese paarigen klobigen Gliedmaße, die wie an den Boden geklebt liegen blieben. Wollte sie eines davon einmal in Bewegung versetzen, so war dies kaum möglich; und gelang es ihr nach unvorstellbar großem Kraftaufwand endlich, mit diesem Arm das auszuführen, was sie wollte, so schien der Rest in bewegungsloser Schockstarre zu verharren. „Nur nicht weiter unnütz in der Blattschneise herumliegen“, sagte sich Annette.
Zuerst wollte sie mit dem unteren Teil ihres Körpers aus der Schneise hinauskommen, aber dieser untere Teil, den sie übrigens noch nicht gesehen hatte und von dem sie sich auch keine rechte Vorstellung machen konnte, erwies sich als zu schwer beweglich; es ging so langsam; und als sie schließlich, fast wild geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht sich seitwärts stieß, hatte sie die Richtung falsch gewählt, schlug mit der Seite gegen eine hart getrocknete Borkenrinde, und der brennende Schmerz, den sie empfand, belehrte sie, dass gerade der seitliche untere Teil ihres Körpers augenblicklich vielleicht der empfindlichste war.
Sie versuchte es daher, zuerst den Oberkörper zu erheben, und drehte vorsichtig den Kopf dem Schneisenrand zu. Dies gelang auch leicht, und trotz ihrer Breite und schweren Masse folgte schließlich der Restkörper langsam der Wendung des Kopfes. Aber als sie den Kopf endlich außerhalb der Schneise in der freien Waldluft hielt, bekam sie Angst, weiter auf diese Weise fortzufahren, denn wenn sie sich schließlich so fallen ließ, musste geradezu ein Wunder geschehen, wenn der Kopf nicht verletzt werden sollte. Und die Besinnung durfte sie gerade jetzt um keinen Preis verlieren; lieber wollte sie in der Blattschneise verharren.
Aber als sie wieder nach gleicher Mühe aufseufzend so dalag wie früher, und wieder ihre Arme und Beine wie gelähmt am Boden kleben sah und keine Möglichkeit erkannte, in diese Lethargie Bewegung und Dynamik zu bringen, sagte sie sich wieder, dass sie unmöglich in der Schneise bleiben könne und dass es das Vernünftigste sei, alles zu opfern, wenn auch nur die kleinste Hoffnung bestünde, sich dadurch aus der Schneise zu befreien. Gleichzeitig aber vergaß sie nicht, sich zwischendurch daran zu erinnern, dass viel besser als verzweifelte Entschlüsse ruhige und ruhigste Überlegung sei. In solchen Augenblicken richtete sie die Augen möglichst scharf auf die lichtbeschienenen Bäume, aber leider war aus dem Anblick des Waldmorgens wenig Zuversicht und Munterkeit zu holen. „Schon bald Mittag“, sagte sie sich beim erneuten Blick auf die Lichtkegel, „schon bald Mittag und noch immer in der Schneise.“ Und ein Weilchen lang lag sie ruhig mit schwachem Atem, als erwarte sie vielleicht von der völligen Stille die Wiederkehr der wirklichen selbstverständlichen Verhältnisse.
Dann aber sagte sie sich: „Ehe es Mittag ist, muss ich unbedingt die Schneise vollständig verlassen haben. Im übrigen wird auch bis dahin eine der Försterschaben kommen, um nach mir zu fragen, denn bis Mittag liefere ich ja für gewöhnlich meine erste Ladung ab.“ Und sie machte sich nun daran, den Körper in seiner ganzen Schwere vollständig gleichmäßig aus dem Schneisenbett zu erheben. Wenn sie auf diese Weise auch auf den harten unbarmherzigen Waldboden geschoben würde, blieb doch der Kopf, den sie nun anhob, voraussichtlich unverletzt. Der Rücken schien gleichsam weich zu sein, so dass jeder kleinste Partikel sich schneidend darin einstanzen würde. Das größte Bedenken machte ihr die Rücksicht auf das laute Rascheln, das es geben müsste und das wahrscheinlich auf alle angrenzenden Schneisen übertragen werden würde und wenn nicht Schrecken, so doch Besorgnisse erregen würde. Das musste aber gewagt werden.
Als Annette schon zur Hälfte aus der Schneise ragte – die neue Methode war mehr ein Spiel als eine Anstrengung, sie brauchte immer nur ruckweise zu schieben – , fiel ihr ein, wie einfach alles wäre, wenn man ihr zu Hilfe käme. Mehrere starke Schaben – sie dachte weniger an ihren Vater als an die Försterschaben – hätten vollständig genügt; sie hätten mit ihren gepanzerten Körpern an der Rückseite ihres Körpers ansetzen können und sie so kraftvoll wegschieben können und dann bloß vorsichtig dulden müssen, dass sie den Überschwung auf den Waldboden vollzöge, wo dann den klobigen Beinen hoffentlich Halt gegeben worden wäre. Nun, ganz abgesehen davon, dass es in den Nachbarschneisen rascheln würde, hätte sie wirklich um Hilfe rufen sollen? Trotz aller Not konnte sie bei diesem Gedanken ein Lächeln nicht unterdrücken.
Schon war sie soweit, dass sie bei stärkerem Schieben kaum noch etwas anderes als ihren schweren Körper spürte, und sehr bald musste sie sich nun endgültig entscheiden, denn es war jetzt bald Mittag, – als ein lautes Rascheln von der Nachbarschneise her erklang. „Das ist eine der Försterschaben“, sagte sie sich und erstarrte fast, während ihre Gliedmaßen nur umso schwerer wirkten. Einen Augenblick lang blieb alles still. „Sie reagieren nicht“, sagte sich Annette, befangen in irgendeiner unsinnigen Hoffnung. Aber dann krabbelte natürlich wie immer die Mutter zum Schneisenrand und sah nach. Annette brauchte nur das erste Grußwort des Besuchers zu hören und wusste schon, wer es war – die Forstschabe selbst. Warum war nur Annette dazu verurteilt, für diese Schaben zu wuseln, wo man beim kleinsten Versäumnis gleich den größten Verdacht fasste? Waren denn alle übrigen Schaben nicht vertrauensselig genug, als dass man nicht einmal ein paar Morgenstunden verschlafen hätte dürfen, ohne vor Gewissensbissen närrisch zu werden und geradezu nicht imstande war, die Schneise zu verlassen? Genügte es wirklich nicht, ein Vorarbeiterschabe nachfragen zu lassen – wenn überhaupt diese Fragerei nötig war – , musste da die Forstschabe selbst kommen, und musste dadurch der ganzen unschuldigen Familie gezeigt werden, dass die Untersuchung dieser verdächtigen Angelegenheit nur dem Verstand der Forstschabe anvertraut werden konnte? Und mehr infolge der Erregung, in welche Annette durch diese Überlegungen versetzt wurde, als infolge eines richtigen Entschlusses, schwang sie sich mit aller Macht aus der Schneise. Es gab ein lautes Rascheln, aber ein eigentlicher Krach war es nicht. Ein wenig wurde das Rascheln durch ein Knistern verstärkt, das durch das Zerreiben von Waldmaterial unter Annettes Rücken bedingt war. Nur den Kopf hatte sie nicht vorsichtig genug aufrecht gehalten und ihn auf den Boden schlagen lassen; sie drehte ihn ein wenig vor Ärger und Schmerz.
„Da drüben ist etwas ausgeglitten“, sagte die Forstschabe in der Nebenschneise links. Annette suchte sich vorzustellen, ob nicht auch einmal der Forstschabe etwas Ähnliches passieren könnte, wie heute ihr; die Möglichkeit dessen musste man doch eigentlich zugeben. Aber wie zur rohen Antwort auf diese Frage machte jetzt die Forstschabe in der Nebenschneise ein paar bestimmte Bewegungen und ließ ihre Beinchen tappen. Aus der Nebenschneise rechts flüsterte der Bruder, um Annette zu verständigen: „Annette, die Forstschabe ist da.“ „Ich weiß“, sagte Annette vor sich hin; aber so laut, dass es der Bruder hätte hören können, wagte sie die Stimme nicht zu erheben.
„Annette“, sagte nun der Vater aus der Nebenschneise links, „die Forstschabe ist gekommen und erkundigt sich, warum du nicht heute früh wuseln und sammeln gegangen bist. Wir wissen nicht, was wir ihr sagen sollen. Übrigens will sie auch mit dir persönlich sprechen. Also bitte komm herüber. Sie wird die Unordnung in der Blattschneise zu entschuldigen schon die Güte haben.“
„Guten Morgen, Annette“, rief die Forstschabe freundlich dazwischen. „Ihr ist nicht wohl“, sagte die Mutter zur Forstschabe, während der Vater noch an der Schneisenkante redete, „ihr ist nicht wohl, glauben Sie mir, Försterich. Wie würde denn Annette sonst das morgendliche Wuseln und Sammeln versäumen! Die Gute hat ja nichts im Kopf als das Wuseln und Sammeln. Ich ärgere mich schon fast, dass sie sich abends niemals vergnügt; jetzt war sie doch acht Tage in der Stadt, aber jeden Abend war sie wieder zu Hause. Da sitzt sie bei uns in der Schneise und leckt sich die Fühler, verräumt Krissel oder studiert neue Wege. Es ist schon eine Zerstreuung für sie, wenn sie sich mit Reisigarbeiten beschäftigt. Da hat sie zum Beispiel im Laufe von zwei, drei Abenden einen kleinen Haufen aufgetürmt; Sie werden staunen, wie hübsch er ist; er steht drinnen bei ihr; Sie werden ihn gleich sehen, bis Annette aufmacht! Ich bin übrigens glücklich, dass Sie da sind, Försterich; wir allein hätten Annette nicht dazu gebracht, herüberzukommen, sie ist oft so hartnäckig; und bestimmt ist ihr nicht wohl; trotzdem sie es am Morgen geleugnet hat.“
„Ich komme gleich“, sagte Annette langsam und bedächtig und rührte sich nicht, um kein Wort der Gespräche zu verlieren. „Anders kann ich es mir auch nicht erklären“, sagte die Forstschabe, „hoffentlich ist es nichts Ernstes. Wenn ich auch andererseits sagen muss, dass wir Sammelschaben – wie man will, leider oder glücklicherweise – ein leichtes Unwohlsein sehr oft aus überlebensnotwendigen Rücksichten einfach überwinden müssen.“ „Also kann der Försterich schon zu dir herüber?“ fragte der ungeduldige Vater und raschelte wiederum an der Blattschneisekante. „Nein“, sagte Annette. An der Nebenschneise rechts begann der Bruder zu schluchzen.
Warum ging denn der Bruder nicht zu den anderen? Er war wohl erst jetzt aus seiner Schneise aufgestanden und hatte noch gar nicht angefangen zu wuseln. Und warum weinte er denn? Weil sie nicht aufstand und die Forstschabe nicht zu sich ließ, weil sie in Gefahr war, die Arbeit und ihr Sammelgebiet zu verlieren und weil dann die Forstschabe die Eltern mit den alten Forderungen wieder verfolgen würde? Das waren doch vorläufig wohl unnötige Sorgen. Noch war Annette hier und dachte nicht im Geringsten daran, ihre Familie zu verlassen. Augenblicklich lag sie wohl da neben ihrer Schneise, und niemand, der ihren Zustand gekannt hätte, hätte im Ernst von ihr verlangt, dass sie die Forstschabe zu sich ließe. Aber wegen dieser kleinen Unhöflichkeit, für die sich ja später leicht eine passende Ausrede finden würde, konnte Annette doch nicht gut sofort weggeschickt werden. Und Annette schien es, dass es viel vernünftiger wäre, sie jetzt in Ruhe zu lassen, statt sie mit Weinen und Zureden zu stören. Aber es war eben die Ungewissheit, welche die anderen bedrängte und ihr Benehmen entschuldigte.
„Annette“, rief nun die Forstschabe mit erhobener Stimme, „was ist denn los? Sie verbergen sich da in ihrer Schneise, antworten bloß mit ja und nein, machen Ihren Eltern schwere, unnötige Sorgen und versäumen – dies nur nebenbei erwähnt – Ihre täglichen Pflichten in einer eigentlich unerhörten Weise. Ich spreche hier im Namen Ihrer Eltern und Ihres Vorgesetzten und bitte Sie ganz ernsthaft um eine augenblickliche, deutliche Erklärung. Ich staune, ich staune. Ich glaubte Sie als eine ruhige, vernünftige Schabe zu kennen, und nun scheinen Sie plötzlich anfangen zu wollen, mit sonderbaren Launen zu paradieren. Der Vorgesetzte deutete mir zwar heute früh eine mögliche Erklärung für Ihre Versäumnisse an – sie betraf die Ihnen seit kurzem anvertraute Sammelstelle – , aber ich legte wahrhaftig fast mein Ehrenwort dafür ein, dass diese Erklärung nicht zutreffen könne. Nun aber sehe ich hier Ihren unbegreiflichen Starrsinn und verliere ganz und gar jede Lust, mich auch nur im geringsten für Sie einzusetzen. Und Ihre Stellung ist durchaus nicht die festeste. Ich hatte ursprünglich die Absicht, Ihnen das alles unter vier Fühlern zu sagen, aber da Sie mich hier nutzlos meine Zeit versäumen lassen, weiß ich nicht, warum es nicht auch Ihre Eltern erfahren sollen. Ihre Leistungen in der letzten Zeit waren also sehr unbefriedigend; es ist zwar nicht die Monateszeit, um besondere Sammelleistungen zu erbringen, das erkennen wir an; aber eine Monateszeit, um kein Sammeln zustande zu bringen, gibt es überhaupt nicht, Annette, und darf es nicht geben.“
„Aber lieber Försterich“, rief Annette außer sich und vergaß in der Aufregung alles andere, „ich bin ja sofort, augenblicklich bei Ihnen. Ein leichtes Unwohlsein, ein Schwindelanfall, haben mich verhindert aufzustehen. Ich liege ja jetzt noch in der Blattschneise. Jetzt bin ich aber schon wieder ganz frisch. Ich habe eben die Schneise verlassen. Nur einen Augenblick Geduld! Es geht noch nicht so gut wie ich dachte. Es ist mir aber schon wohl. Wie das nur eine Schabe so überfallen kann! Noch gestern abend war mir ganz gut, meine Eltern wissen es ja, oder besser, schon gestern abend hatte ich eine kleine Vorahnung. Man hätte es mir ansehen müssen. Warum habe ich es nur nicht gleich den Forstschaben gemeldet! Aber man denkt eben immer, dass man die Krankheit ohne Zuhausebleiben überstehen wird. Lieber Försterich! Schonen Sie meine Eltern! Für alle die Vorwürfe, die Sie mir jetzt machen, ist ja kein Grund; man hat mir ja davon auch kein Wort gesagt. Sie haben vielleicht die letzten Sammlungen, die ich angehäuft habe, nicht gesehen. Übrigens, noch vor dem Mittag wusele ich los, die paar Stunden Ruhe haben mich gekräftigt. Halten Sie sich nur nicht auf, lieber Försterich; ich bin gleich selbst zur Stelle, und haben sie die Güte, das zu sagen und mich dem Vorgesetzten zu empfehlen!“
Und während Annette dies alles hastig ausstieß und kaum wusste, was sie sprach, hatte sie sich leicht, wohl infolge der in der Schneise bereits erlangten Übung, der Nachbarschneise genähert und versuchte nun abermals, sich aufzurichten. Sie wollte tatsächlich hinüberkriechen und mit der Forstschabe sprechen; sie war begierig zu erfahren, was die anderen, die jetzt so nach ihr verlangten, bei ihrem Anblick sagen würden. Würden sie erschrecken, dann hatte Annette keine Verantwortung mehr und konnte ruhig sein. Würden sie aber alles ruhig hinnehmen, dann hatte auch sie keinen Grund sich aufzuregen, und konnte, wenn sie sich beeilte, vor Mittag tatsächlich am Wuseln sein. Zuerst kippte sie nun einige Male von ihren klobigen Füßen, dass der Waldboden dumpf erbebte, aber endlich gab sie sich einen größeren Schwung und fasste endlich Halt auf ihren spärlichen vier Gliedmaßen; auf die Schmerzen am Rücken achtete sie jetzt gar nicht mehr, so sehr sie auch stachen. Nun krabbelte sie bereits auf allen Vieren nach vorne, musste aber abermals den durch die Absenz der gewohnt vielen Beinchen klapprigen Halt kompensieren, was nicht gelang. Erst nach mehreren Versuchen gelang es Annette, sich auf ihren klobigen Stempelgliedern zu halten. Damit hatte sie aber auch die Herrschaft über sich erlangt und verstummte, denn nun konnte sie die Forstschabe anhören.
„Haben Sie auch nur ein Wort verstanden?“ fragte die Fortschabe ihre Eltern, „sie macht sich doch wohl nicht einen Narren aus uns?“ „Um Gottes willen“, rief die Mutter schon unter Weinen, „sie ist vielleicht schwer krank, und wir quälen sie. Johann! Johann!“ schrie sie dann. „Mutter?“ rief der Bruder von der anderen Seite. Sie verständigten sich durch Annettes Schneise. „Du musst augenblicklich zum Arzt. Annette ist krank. Rasch um den Arzt. Hast du Annette jetzt reden hören?“ „Das war eine Menschenstimme“, sagte die Forstschabe, auffallend leise gegenüber dem Schreien der Mutter. „Lotte! Lotte!“ rief der Vater durch die angrenzenden Schneisen hindurch und klatschte in die Hände, „sofort zur Schneise!“ Und schon liefen die Mutter und der Bruder mit tapsenden Beinchen durch das Blattdickicht. Wie hatte sich der Bruder nur so schnell fertig gemacht? – und durchwühlten die Blattschneise. Man hörte indessen kaum das emsige Wühlen, wie es im Allgemeinen in Schneisen üblich ist, in denen ein großes Unglück geschehen ist.
Annette war aber viel ruhiger geworden. Man verstand zwar also ihre Worte nicht mehr, trotzdem sie ihr genug klar, klarer als früher, vorgekommen waren, vielleicht infolge der Gewöhnung des Ohres. Aber immerhin glaubte man nun schon daran, dass es mit ihr nicht ganz in Ordnung war, und war bereit, ihr zu helfen. Die Zuversicht und Sicherheit, mit welchen die ersten Anordnungen getroffen worden waren, taten ihr wohl. Sie fühlte sich wieder einbezogen in den Schabenkreis und erhoffte von beiden, vom Arzt und der Forstschabe, ohne sie eigentlich genau zu scheiden, großartige und überraschende Leistungen. Um für die sich nähernden entscheidenden Besprechungen eine möglichst klare Stimme zu bekommen, hustete sie ein wenig ab, allerdings bemüht, dies ganz gedämpft zu tun, da möglicherweise auch schon dieses Geräusch anders als schabengemäßes Aufstoßen klang, was sie selbst zu entscheiden sich nicht mehr getraute. An der Nebenschneise war es inzwischen ganz still geworden. Vielleicht saßen die Eltern mit der Forstschabe zu Rate nieder und tuschelten, vielleicht hatten sie sich auch unter den Blättern versteckt, um zu horchen.
Annette krabbelte langsam auf dem harten Waldboden nach vorne, bemerkte dabei erst jetzt in Gänze die Größenunterschiede, die sie angesichts ihres menschlichen Körpers von ihren Artgenossen schied. Das Krabbeln gelang jetzt leidlich, auch wenn der Kraftaufwand beträchtlich war, zudem spürte sie immer wieder den rauen Untergrund des Waldes. Fuß- und Handballen schienen übermäßig empfindlich zu sein, denn jede kleinste Unebenheit schrieb sich schmerzhaft in sie ein. Dann machte sie sich daran, ihre Eltern und die Forstschabe zu suchen. Sie konnte den Waldboden in einem für sie ungewohnt großem Areal überblicken, doch genau diese Übersicht ließ das Auffinden der verwandten Schaben jetzt ungleich schwieriger werden. Endlich erkannte sie schräg unter sich die herumwuselnden Schaben, tatsächlich befanden sie sich nun im Kernschatten von Annettes Körper, so groß und mächtig war ihre Masse im Vergleich zu ihren Artgenossen geworden. „Hören Sie nur“, sagte die Forstschabe unter ihr, „sie schleicht dort herum.“ Das war für Annette eine große Aufmunterung; aber alle hätten ihr zurufen sollen, auch der Vater und die Mutter: „Frisch, Annette“, hätten sie rufen sollen, „immer nur heran, vorwärts an den Schneisenrand heran!“ und in der Vorstellung, dass alle ihre Bemühungen mit Spannung verfolgten, krabbelte sie mit allem, was sie an Kraft aufbringen konnte besinnungslos voran. Je nach dem Fortschreiten glitt der Schatten ihres Körpers jetzt etwas über die Verwandten hinweg. Dabei bemerkte Annette die eigenartige Beschaffenheit ihres neuen Körpers, als schattige Silhouette auf dem Waldboden. Mit zahlreichen Einbuchtungen und Rundungen war er ausgestattet, schien ganz und gar nicht so zweckmäßig, wie ihr fest-gepanzerter Schabenkörper. Auch die zwei von ihrem Oberkörper schlaff herabhängenden Fortsätze schienen ihr keine Funktion zu erfüllen. Das Schlimmste waren aber nach wie vor die klobigen und unhandlichen Gliedmaßen, die als Sammel- und oder Fresswerkzeuge absolut ungeeignet waren. Jetzt gewahrte sie endlich die Anordnung der gesamten Blattschneise, war darüber hinaus. Aufatmend sagte sie sich: „Ich habe also keine Hilfe gebraucht, um mich fortzubewegen, den ganzen Weg von der Schneise aus.
Da sie die gesamte Fläche so überblicken konnte, hatte sie sich gegenüber den Verwandten wie auch der Forstschabe einen Vorteil verschafft, vielleicht hatten die anderen sie und ihre Stellung ob der ungewohnten Verhältnisse auch noch gar nicht wahrgenommen. Sie war noch ganz mit der Koordination ihrer vierbeinigen Gliedmaße beschäftigt, da hörte sie schon die Forstschabe ein lautes „Oh!“ ausstoßen – es klang, wie wenn der Wind saust – und nun sah sie sie auch, wie sie, die unmittelbar unter ihrem Kopf sich befand, erschreckt hinwegkrabbelte, als vertreibe sie eine unsichtbare, gleichmäßig fortwirkende Kraft. Die Mutter – sie befand sich hier trotz der Anwesenheit der Forstschabe mit von der Nacht her noch aufgeklaubten Blatt- und Reisigresten auf ihrem Leib – sah zuerst den daliegenden Vater an, krabbelte dann in Richtung von Annettes Kopfschatten und verharrte sich einnistend am Boden. Der Vater straffte die Fühler in einem feindseligen Ausdruck, als wolle er Annette damit in ihre Schneise zurücktreiben, sah sich dann unsicher in der ganzen Schneise um, beschattete dann mit einem Paar seiner vorderen Beinchen die Augen und weinte, dass sich seine gekerbte Brust schüttelte.
Annette krabbelte nun nicht weiter, sondern verharrte am Rand der Schneise, so dass ihr Leib nach wie vor nur von unten wie ein Teil der hohen Waldbäume zu sehen war. Es war inzwischen noch heller geworden; klar stand auf der anderen Schneisenseite ein Ausschnitt des entfernten Waldsaums, mit seinen kontrastreichen lichtbeschienen Borkenrinden. Das Licht der Sonne strahlte jetzt gleißend durch den Wald. Die Frühstücksüberreste lagen zusammen mit einzelnen Exkrementen und von Kauspeichel durchwirkt auf dem Boden. Immerhin war für ihren Vater das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages, die er beim beschaulichen Ausscheiden kleiner Kotkügelchen aus seinem Hinterleib beging. Gerade an der gegenüberliegenden Schneise befand sich einer von Annettes angesammelten Reisighaufen, der jedoch bereits halb zusammengefallen war. Die gesamte Blattschneise war nun von Licht durchflutet.
„Nun“, sagte Annette und war sich dessen wohl bewusst, dass sie die einzige war, die die Ruhe bewahrt hatte, „ich werde mich gleich auf den Weg machen, sammeln gehen und wuseln. Wollt ihr, wollt ihr mich weggehen lassen? Nun, lieber Försterich, Sie sehen, ich bin nicht starrköpfig und arbeite gern; das Wuseln ist beschwerlich, aber ich könnte ohne das Wuseln nicht leben. Wohin gehen Sie denn, lieber Försterich? Zu den Forstschaben? Ja? Werden Sie alles wahrheitsgetreu berichten? Man kann im Augenblick unfähig sein zu arbeiten, aber dann ist gerade der richtige Zeitpunkt, sich an die früheren Leistungen zu erinnern und zu bedenken, dass man später, nach Beseitigung des Hindernisses, gewiss desto fleißiger und gesammelter sammeln wird. Ich bin ja dem Vorgesetzten so sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ich die Sorge um meine Eltern und den Bruder. Ich bin ja in der Klemme, ich werde mich aber auch wieder herausarbeiten. Machen Sie es mir aber nicht schwieriger, als es schon ist. Halten Sie bei den Forstschaben meine Partei! Man liebt die Sammelnde nicht, ich weiß. Man denkt, sie verdient ein Fürstenleben und lebt wie die Made im Speck. Man hat eben keine besondere Veranlassung, dieses Vorurteil besser zu durchdenken. Sie aber, lieber Försterich, Sie haben einen besseren Überblick über die Verhältnisse, als die übrigen Schaben, ja sogar, ganz im Vertrauen gesagt, einen besseren Überblick, als der Vorgesetzte selbst, der in seiner Eigenschaft als Leiter sich in seinem Urteil leicht zu Ungunsten eines Angestellten beirren lässt. Sie wissen ja auch sehr wohl, dass die Sammelnde, die fast das ganze Jahr außerhalb der Forstschaben lebt, so leicht ein Opfer von Klatschereien, Zufälligkeiten und grundlosen Beschwerden werden kann, gegen die sich zu wehren ihr ganz unmöglich ist, da sie von ihnen meist gar nichts erfährt und nur dann, wenn sie erschöpft eine Sammlung beendet hat, zu Hause die schlimmen, auf ihre Ursachen hin nicht mehr zu durchschauenden Folgen am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Lieber Försterich, gehen Sie nicht weg, ohne mir ein Wort gesagt zu haben, das mir zeigt, dass Sie mir wenigstens zu einem kleinen Teil recht geben!“
Aber die Forstschabe hatte sich schon bei den ersten Worten Annettes abgewendet, und nur über die zuckende Schulter hinweg sah sie mit aufgeworfenen Fühlern nach Annette zurück. Und während Annettes Rede stand sie keinen Augenblick still, sondern verzog sich, ohne Annette aus den Augen zu lassen, gegen die Schneise, aber ganz allmählich, als bestehe ein geheimes Verbot, die Schneise zu verlassen. Schon war sie am Rand der Schneise, und nach der plötzlichen Bewegung, mit der sie zum letzten Mal ein Beinchen aus der Blattschneise zog, hätte man glauben können, sie habe sich soeben den Ballen verbrannt. Am Ende der Schneise aber streckte sie noch einmal die Fühler weit von sich in Richtung Waldsaum, als warte dort auf sie eine geradezu überirdische Erlösung.
Annette sah ein, dass sie die Forstsschabe in dieser Stimmung auf keinen Fall wegkrabbeln lassen dürfe, wenn dadurch ihre Stellung im Forst nicht aufs äußerste gefährdet werden sollte. Die Eltern verstanden das alles nicht so gut; sie hatten sich in den langen Monaten die Überzeugung gebildet, dass Annette in diesem Forst für ihr Leben versorgt war, und hatten außerdem jetzt mit den augenblicklichen Sorgen so viel zu tun, dass ihnen jede Voraussicht abhanden gekommen war. Aber Annette hatte diese Voraussicht. Die Forstschabe musste gehalten, beruhigt, überzeugt und schließlich gewonnen werden; die Zukunft Annettes und ihrer Familie hing doch davon ab! Wäre doch der Bruder hier gewesen! Er war klug; er hatte schon geweint, als Annette noch ruhig auf dem Rücken lag. Und gewiss hätte die Forstschabe, dieser Bruderfreund, sich von ihm lenken lassen; er hätte die Schneise zurechtgemacht und ihr dort den Schrecken ausgeredet. Aber der Bruder war eben nicht da, Annette selbst musste handeln. Und ohne daran zu denken, dass sie ihre gegenwärtigen Fähigkeiten, sich zu bewegen, noch gar nicht kannte, ohne auch daran zu denken, dass ihre Rede möglicher- ja wahrscheinlicherweise wieder nicht verstanden worden war, verließ sie die Schneise; krabbelte ein paar Schritte weiter und wollte sich zur Forstschabe herabneigen, die sich schon am Waldsaum befand. Da fiel sie aber erneut hin, dass der Boden bebte, lag damit wieder auf dem nackten Bauch. Kaum war das geschehen, fühlte sie zum erstenmal an diesem Morgen ein körperliches Wohlbehagen; auf dem Bauch robbte es sich weicher, auch wenn nach wie vor der ganze Dreck vom Waldboden an ihr kleben blieb. Nach einem erneuten Aufbäumen bemerkte sie, dass ihre hinteren Gliedmaße, die Beine, viel kraftvoller waren als dies auf die Arme zutraf. Mit mehr Aufwand richtete sie sich auf, stand nun auf ihren zwei klobigen Beinen und spürte einen freudigen Halt; und schon glaubte sie, die endgültige Besserung alles Leidens stehe unmittelbar bevor. Aber im gleichen Augenblick, als sie da wankend vor verhaltener Bewegung, gar nicht weit von den restlichen Bäumen sich befand, sah sie, dass unter ihr ein heilloses Wuseln ausgebrochen war. Die Mutter sprang, so versunken in sich sie zuvor auch schien, plötzlich in die Höhe, die Fühler weit ausgestreckt, die Beinchen gespreizt und rief: „Hilfe, um Gottes willen Hilfe!“, hielt den Kopf geneigt, als wolle sie Annette besser sehen, krabbelte aber, im Widerspruch dazu, sinnlos zurück; hatte vergessen, dass hinter ihr der angesammelte Resthaufen von Annette stand; setzte sich, als sie bei ihm angekommen war, wie in Zerstreutheit, eilig auf ihn; und schien gar nicht zu merken, dass neben ihr der Rest Frühstücksbrei unter den Blattresten zerfloss.
„Mutter, Mutter“, sagte Annette leise, und sah zu ihr herab. Die Forstschabe war ihr für einen Augenblick ganz aus dem Sinn gekommen; dagegen konnte sie sich nicht versagen, im Anblick des Frühstücksbreis mehrmals mit den Zähnen zu knirschen. Darüber schrie die Mutter neuerdings auf, flüchtete ihrerseits zum Waldsaum und fiel dem ihr entgegnkrabbelnden Vater in die Fühler. Aber Annette hatte jetzt keine Zeit für ihre Eltern; die Forstschabe war schon nahe des Waldsaums; die Fühler dorthin ausgestreckt, sah sie noch zum letzten Mal zurück. Annette nahm einen Anlauf, um sie möglichst sicher einzuholen; die Forstschabe musste etwas ahnen, denn sie machte einen Satz über und unter mehreren Hölzern hindurch und verschwand. „Huh!“ aber schrie sie noch, es klang durch die ganze Schneise hindurch. Leider schien nun auch diese Flucht der Forstschabe den Vater, der bisher verhältnismäßig gefasst gewesen war, völlig zu verwirren, denn statt selbst der Forstschabe nachzulaufen oder wenigstens Annette in der Verfolgung nicht zu hindern, packte er mit seinen Kieferwerkzeugen ein langes Stück Reisig und machte sich unter wirrem Wuseln daran, Annette durch Schwenken des Reisigs in die Schneise zurückzutreiben. Kein Bitten Annettes half, kein Bitten wurde auch verstanden, sie mochte den Kopf noch so demütig drehen, der Vater wuselte nur wilder mit dem Reisig umher. Drüben hatte sich die Mutter trotz des warmen Wetters mit Blättern zugedeckt. Zwischen Waldsaum und Schneise entstand wiederum starker gleißender Lichtkontrast. Unerbittlich drängte der Vater und stieß Zischlaute aus, wie eine wilde Kakerlake. Nun hatte aber Annette noch gar keine Übung im Rückwärtsgehen, es ging wirklich sehr beschwerlich und langsam. Wenn sich Annette nur hätte umdrehen dürfen, sie wäre gleich in ihrer Schneise gewesen, aber sie fürchtete sich, den Vater durch die zeitraubende Umdrehung ungeduldig zu machen, und jeden Augenblick drohte ihr doch von dem Reisig in des Vaters Kiefer eine empfindliche Berührung an Annettes sensiblem Körper. Endlich aber blieb Annette doch nichts anderes übrig, denn sie merkte mit Entsetzen, dass sie im Rückwärtsgehen nicht einmal die Richtung einzuhalten verstand; und so begann sie, unter unaufhörlichen ängstlichen Blicken nach unten, sich nach Möglichkeit rasch, in Wirklichkeit aber doch nur sehr langsam umzudrehen. Vielleicht merkte der Vater ihren guten Willen, denn er störte sie hierbei nicht, sondern dirigierte sogar hie und da die Drehbewegung von der Ferne mit der Spitze des Reisigs. Wenn nur nicht dieses unerträgliche Zischen des Vaters gewesen wäre! Annette verlor darüber ganz den Kopf. Sie war schon fast wieder umgedreht, als sie sich, immer auf dieses Zischen horchend, sogar irrte und sich wieder ein Stück zurückdrehte. Als sie aber endlich glücklich mit dem Kopf vor der Schneise war, zeigte es sich, dass ihr Körper viel zu groß war, um ohne weiteres in der Schneise Platz zu finden. Dem Vater fiel es natürlich in seiner gegenwärtigen Verfassung auch nicht entfernt ein, etwa von der anderen Schneise her zu kommen, um für Annette die Einweisung leichter zu gestalten. Seine fixe Idee war bloß, dass Annette so rasch als möglich in ihre Schneise müsse. Niemals hätte er auch die umständlichen Vorbereitungen gestattet, die Annette brauchte, um sich aufzurichten und vielleicht auf diese Weise stehend in der Schneise unterzukommen. Vielmehr trieb er, als gäbe es kein Hindernis, Annette jetzt unter Lärm und Androhung des Reisigs auf ihre vier Gliedmaßen, damit sie krabbelnd das Ziel erreiche; es klang schon hinter Annette gar nicht mehr wie die Stimme eines einzigen Vaters; nun gab es wirklich keinen Spaß mehr, und Annette drängte sich – geschehe was da wolle – in die Schneise. Die eine Seite ihres Körpers hob sich, sie lag schief in der Schneise, ihr ganzer Bauch war jetzt wundgerieben vom Krabbeln, bald mischte sich Blut mit den zahllosen Partikeln und Blättern am Waldboden – da gab ihr der Vater von hinten einige Bisse in ihren Leib und sie zuckte sich, auch an diesen Stellen nun blutend, kauernd in die Schneise hinein. Dann war es endlich still.
II
Erst in der Abenddämmerung erwachte Annette aus ihrem schweren ohnmachtsähnlichen Schlaf. Sie wäre gewiss nicht viel später auch ohne Störung erwacht, denn sie fühlte sich genügend ausgeruht und ausgeschlafen, doch schien es ihr, als hätte sie ein flüchtiges Rascheln und ein vorsichtiges Blattknirschen geweckt. Der Schein der letzten Sonnenstrahlen lag bleich hier und da auf der Blattschneisedecke und auf den übrigen Teilen des Waldbodens, aber bei Annette, in ihrer Schneise war es finster. Langsam erhob sie sich, noch ungeschickt mit ihren Armen tastend, die sie erst jetzt schätzen lernte, zum Schneisenrand hin, um nachzusehen, was dort geschehen war. Ihre linke Seite schien eine einzige lange, unangenehm spannende Wunde und sie musste auf ihren zwei Beinen regelrecht wanken. Die Wunden am Rücken waren übrigens schwerer als zunächst angenommen – es war fast ein Wunder, dass sie so überhaupt etwas Schlaf finden konnte – jetzt schmerzten sie heftig.
Erst am Rand der Schneise merkte sie, was sie dorthin eigentlich gelockt hatte; es war der Geruch von etwas Essbarem gewesen. Denn dort stand eine Schale mit zusammengeklaubten Essenresten, es handelte sich dabei um eine Mischung aus Brotkrumen und zerfetzten Fleischfasern. Fast hätte sie vor Freude gelacht, denn sie hatte noch größeren Hunger, als am Morgen, und gleich griff sie mit ihren Fingern unkoordiniert in die Schale hinein. Aber bald zog sie sie enttäuscht wieder zurück; nicht nur, dass ihr das Essen wegen ihrer heiklen Wundseite am Rücken Schwierigkeiten machte – sie lag jetzt immer noch großflächig auf dieser Seite – so schmeckten ihr überdies die Fleischfasern, die sonst zu ihren Lieblingsessen gehörten, und die ihr gewiss der Bruder deshalb hingestellt hatte, gar nicht, ja, sie wandte sich fast mit Widerwillen von der Schale ab und bewegte sich zurück in ihre Schneise. In der Nachbarschneise war, wie Annette am Rascheln und Wuseln im Blattwerk sah, die Familie zur Nachtruhe bereit, doch alle schienen in spannungsvoller Erwartung zu verharren, man hörte jetzt keinen Laut. Überall ringsherum war es so still, trotzdem es gewiss um die Schneise herum noch wuselte. „Was für ein stilles Leben die Familie doch führte“, sagte sich Annette und fühlte, während sie starr vor sich ins Dunkel sah, einen großen Stolz darüber, dass sie ihren Eltern und ihrem Bruder ein solches Leben in einer schönen Blattschneise hatte verschaffen können. Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollte? Um sich nicht in solche Gedanken zu verlieren, setzte sich Annette lieber in Bewegung und schob sich in ihrer Schneise vor und zurück.
Einmal während des langen Abends wurde an allen Schneisenrändern heftig geraschelt; jemand hatte wohl das Bedürfnis heranzukommen, aber auch wieder zu viele Bedenken. Annette machte nun unmittelbar an ihrer Grenze halt, entschlossen, den zögernden Besucher doch irgendwie hereinzubringen oder doch wenigstens zu erfahren, wer es sei; aber nun wurde die Schneise nicht mehr geöffnet und Annette wartete vergebens. Früh, da die Schneisen frisch zurecht gemacht waren, hatten alle zu ihr herankommen wollen, jetzt, da sie sich aus ihrer herausbewegt hatte und die anderen offenbar während des Tages ihrerseits über den Haufen geworfen wurden, kam keiner mehr, und die Ränder waren allenfalls noch zu erahnen.
Spät erst in der Nacht legten sich die Geräusche, und nun war leicht festzustellen, dass die Eltern und der Bruder so lange wachgeblieben waren, denn die man genau hören konnte, entfernten sich jetzt alle drei vorsichtig krabbelnd. Nun kam gewiss bis zum Morgen niemand mehr zu Annette heran; sie hatte also eine lange Zeit, um ungestört zu überlegen, wie sie ihr Leben jetzt neu ordnen sollte. Aber die schmale Blattschneise, in der sie gezwungen war, flach auf dem Boden zu liegen, ängstigte sie, ohne dass sie die Ursache herausfinden konnte, denn es war ja ihre seit fünf Monaten von ihr bewohnte Schneise – und mit einer halb unbewussten Wendung und nicht ohne eine leichte Scham bedeckte sie sich so gut es ging mit Blättern, nicht zuletzt auch deshalb, um der nun beträchtlich gewordenen Kälte einen Schutz entgegenzusetzen. So fühlte sie sich gleich sehr behaglich, bedauerte nur, dass ihr Körper zu groß war, um vollständig von den Blättern bedeckt zu werden.
Dort blieb sie die ganze Nacht, die sie zum Teil im Halbschlaf, aus dem sie der Hunger immer wieder aufschreckte, verbrachte, zum Teil aber in Sorgen und undeutlichen Hoffnungen, die aber alle zu dem Schlusse führten, dass sie sich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und größte Rücksichtnahme der Familie die Unannehmlichkeiten erträglich machen müsse, die sie ihr in ihrem gegenwärtigen Zustand nun einmal zu verursachen gezwungen war.
Schon am frühen Morgen, es war fast noch Nacht, hatte Annette Gelegenheit, die Kraft ihrer eben gefassten Entschlüsse zu prüfen, denn vom Schneisenrand her erschien plötzlich der Bruder und sah mit Spannung an ihr herauf. Er sah sie nicht gleich, aber als er erkannte, dass dieser gewaltige, teilweise von Blättern bedeckte Korpus Annette sein musste, erschrak er so sehr, dass er, ohne sich beherrschen zu können, wieder von dannen krabbelte. Aber als bereue er sein Benehmen, kam er sogleich wieder heran, als sei er bei einer Schwerkranken oder gar bei einer Fremden. Annette hatte den Kopf bis knapp zum Rande der Schneise vorgeschoben und beobachtete ihn. Ob er wohl bemerken würde, dass sie die Fleischfasern stehen gelassen hatte, und zwar keineswegs aus Mangel an Hunger, und ob er eine andere Speise bringen würde, die ihr besser entsprach? Täte er es nicht von selbst, sie wollte lieber verhungern, als sie darauf aufmerksam zu machen, trotzdem es ihr eigentlich ungeheuer drängte, die Schneise endgültig zu verlassen, sich dem Bruder ganz zu offenbaren und ihn um irgendetwas Gutes zum Essen zu bitten. Aber der Bruder bemerkte sofort mit Verwunderung die noch volle Schale, aus dem nur ein wenig Fleischfasern angefressen über den Rand ragten, er umfasste sie gleich mit seinen vorderen Beinpaaren und zerrte sie hinweg. Annette war äußerst neugierig, was er zum Ersatz bringen würde, und sie machte sich die verschiedensten Gedanken darüber. Niemals aber hätte sie erraten können, was der Bruder in seiner Güte wirklich tat. Er brachte ihr, um ihren Geschmack zu prüfen, augenscheinlich mit enormem Kraftaufwand vor sich herschiebend, eine Auswahl an menschlichen Speiseresten, alles in derselben kleine Schale aufgehäuft. Das waren fettige Pommes-Frites-Fragmente, Schinkenspicker, Metbrötchenreste, labbriges Sauerkraut und eine mit Butter bestrichene Scheibe Pumpernickel. Außerdem schob er ihr eine zweite Schale mit, wie sie beim Probieren gleich feststellte, süßem Sprudel hin. Und aus Zartgefühl, da er wusste, dass Annette vor ihm nicht fressen würde, entfernte er sich eiligst und schob sogar neue Blätter an den Schneisenrand, damit Annette nur merken könne, dass sie es sich so behaglich machen dürfe, wie sie wolle. Annettes Finger griffen sogleich nach dem Dargebrachten. Ihre Wunden mussten übrigens auch schon vollständig geheilt sein, sie fühlte keine Behinderung mehr, sie staunte darüber und dachte daran, wie sie vor mehr als einem Monat eine Quetschung an einem ihrer Beinchen erlitten hatte, als ein kleinerer Stein vom Sims eines Gebäudes neben sie herabfiel, und wie ihr diese Quetschung noch vorgestern genug wehgetan hatte: „Sollte ich jetzt weniger Feingefühl haben?“ dachte sie und hatte schon gierig die Pommes-Frites an ihren Mund geführt, zu denen es sie vor allen anderen Speisen sofort und nachdrücklich gezogen hatte. Rasch hintereinander und mit vor Befriedigung tränenden Augen verzehrte sie auch den Schinkenspicker, die Metbrötchenreste und das Sauerkraut sowie die Pumpernickelscheibe mit Butter; die ranzigen Speisereste schmeckten ihr dagegen nicht, sie konnte nicht einmal ihren Geruch vertragen und nahm sogar die Sachen, die sie fressen wollte, ein Stückchen weiter weg. Sie war schon längst mit allem fertig und lag nur noch faul auf der gleichen Stelle, als der Bruder zum Zeichen, dass sie sich wieder in ihre Schneise zurückziehen solle, langsam weitere Blätter an den Rand schob. Das schreckte sie sofort auf, trotzdem sie fast schon schlummerte, und sie bewegte sich gleich wieder vollständig in ihr Schneisenbett zurück. Aber es kostete sie große Selbstüberwindung, auch nur die kurze Zeit, während welcher der Bruder in ihrer Schneise war, ganz darin zu bleiben, weshalb sie sich ganz zusammenkauerte, indem sie ihre Arme unter die zum Bauch hochgezogenen Beine steckte. Unter kleinen Erstickungsanfällen sah sie mit etwas hervorquellenden Augen zu, wie der nichtsahnende Bruder mit Eifer nicht nur die Überbleibsel der Speisen zusammenklaubte, sondern selbst die von Annette gar nicht berührten Speisen, als seien also auch diese nicht mehr zu gebrauchen, hastig vertilgte. Kaum hatte er sich umgedreht, zog sich Annette auch schon wieder etwa aus ihrer Kauerstellung zurück.
Auf diese Weise bekam nun Annette täglich ihr Fressen, einmal am Morgen, wenn die Eltern schon umherwuselten, das zweitemal nach dem allgemeinen Mittagsfressen, denn dann schliefen die Eltern gleichfalls noch ein Weilchen, und der Bruder brachte abermals Nachschub. Gewiss wollten auch die Eltern nicht, dass Annette verhungere, aber vielleicht hätten sie es nicht ertragen können, von ihrem Fressen mehr als durch Hörensagen zu erfahren, vielleicht wollte der Bruder ihnen auch eine möglicherweise nur kleine Trauer ersparen, denn tatsächlich litten sie ja gerade genug.
Mit welchen Ausreden man an jenem ersten Vormittag den Arzt wieder aus der Schneise geschafft hatte, konnte Annette gar nicht erfahren, denn da sie nicht verstanden wurde, dachte niemand daran, auch der Bruder nicht, dass sie die Anderen verstehen könne, und so musste sie sich, wenn der Bruder in ihrer Schneise war, damit begnügen, nur hier und da seine Seufzer und Ausrufe zu hören. Erst später, als er sich ein wenig an alles gewöhnt hatte – von vollständiger Gewöhnung konnte natürlich niemals die Rede sein -, erhaschte Annette manchmal eine Bemerkung, die freundlich gemeint war oder so gedeutet werden konnte. „Heute hat es ihr aber geschmeckt“, sagte er, wenn Annette unter dem Fressen tüchtig aufgeräumt hatte, während er im gegenteiligen Fall, fast traurig zu sagen pflegte: „Nun ist wieder alles stehengeblieben.“
Während aber Annette unmittelbar keine Neuigkeit erfahren konnte, erhorchte sie manches von den Nebenschneisen, und wo sie nur einmal Stimmen hörte, schob sie sich gleich zu dem betreffenden Schneisenrand. Besonders in der ersten Zeit gab es kein Gespräch, das nicht irgendwie, wenn auch nur im geheimen, von ihr handelte. Zwei Tage lang waren bei allen Mahlzeiten Beratungen darüber zu hören, wie man sich jetzt verhalten solle; aber auch zwischen den Mahlzeiten sprach man über das gleiche Thema, denn immer waren zumindest zwei Familienmitglieder zu Hause, da wohl niemand allein zu Hause bleiben wollte und man die Schneise doch auf keinen Fall gänzlich verlassen konnte.
Immer wieder hörte Annette, wie der eine den anderen vergebens zum Fressen aufforderte und keine Antwort bekam, als „Danke, ich habe genug“ oder etwas Ähnliches. Getrunken wurde vielleicht auch nichts. Öfters fragte der Bruder den Vater, ob er Schmand wolle, und herzlich erbot er sich, ihn selbst zu holen, und als der Vater schwieg, sagte er, um ihm jedes Bedenken zu nehmen, er könne auch die Mutter schicken, aber dann sagte der Vater schließlich ein großes „Nein“, und es wurde nicht mehr davon gesprochen.
Schon im Laufe des ersten Tages legte der Vater die ganzen Sammelverhältnisse und Aussichten sowohl der Mutter, als auch dem Bruder dar. Hie und da krabbelte er los und holte Teile des von Annette gesammelten Nahrungsvorrats. Diese Erklärungen des Vaters waren zum Teil das erste Erfreuliche, was Annette seit ihrer Gefangenschaft zu hören bekam. Sie war der Meinung gewesen, dass dem Vater von jenen Sammeleien her nicht das Geringste übriggeblieben war, zumindest hatte ihr der Vater nichts Gegenteiliges gesagt, und Annette allerdings hatte ihn auch nicht darum gefragt. Annette Sorge war damals nur gewesen, alles daranzusetzen, um die Familie das geschäftliche Unglück, das alle in eine vollständige Hoffnungslosigkeit gebracht hatte, möglichst rasch vergessen zu machen. Und so hatte sie damals mit ganz besonderem Feuer zu wuseln angefangen und war fast über Nacht aus einem kleinen Distrikt eine reinrassige Sammelschabe geworden, die natürlich ganz andere Möglichkeiten des Sammelns als eine gewöhnliche Waldschabe hatte, und dessen Wuselerfolge sich sofort in Form der Provision zu Nahrungsergänzungen verwandelten, die der erstaunten und beglückten Familie zu Hause in die Schneise gelegt werden konnten. Es waren schöne Zeiten gewesen, und niemals nachher hatten sie sich, wenigstens in diesem Glanze, wiederholt, trotzdem Annette später so viel sammelte, dass sie den Aufwand der ganzen Familie zu tragen imstande war und auch trug. Man hatte sich eben daran gewöhnt, sowohl die Familie, als auch Annette, man nahm das Gesammelte dankbar an, sie lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben. Nur der Bruder war Annette doch noch nahe geblieben, und es war ihr geheimer Plan, ihn, der zum Unterschied von Annette das Zirpen sehr liebte und ganz rührend vor sich her zirpen konnte, nächstes Jahr, ohne Rücksicht auf große Umstände, die das verursachen musste, zu den Grillen gehen zu lassen. Öfters während der kurzen Aufenthalte Annettes an der Stadtperipherie wurden in den Gesprächen mit dem Bruder die Grillen erwähnt, aber immer nur als schöner Traum, an dessen Verwirklichung nicht zu denken war, und die Eltern hörten nicht einmal diese unschuldigen Erwähnungen gern; aber Annette dachte sehr bestimmt daran und beabsichtigte, es am Weihnachtsabend feierlich zu erklären.
Solche in ihrem gegenwärtigen Zustand ganz nutzlose Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie dort am Schneisenrand lag und horchte. Manchmal konnte sie vor allgemeiner Müdigkeit gar nicht mehr zuhören und ließ den Kopf nachlässig auf den Boden fallen, hielt ihn aber sofort wieder fest, denn selbst das kleine Geräusch, das sie damit verursacht hatte, war nebenan gehört worden und hatte alle verstummen lassen. „Was sie nur wieder treibt“, sagte der Vater nach einer Weile, offenbar zur Schneise hingewendet, und dann erst wurde das unterbrochene Gespräch allmählich wieder aufgenommen.
Annette erfuhr nun zur Genüge – denn der Vater pflegte sich in seinen Erklärungen öfters zu wiederholen, teils, weil er selbst sich mit diesen Dingen schon lange nicht beschäftigt hatte, teils auch, weil die Mutter nicht alles gleich beim ersten Mal verstand -, dass trotz allen Unglücks ein allerdings ganz kleines Sammelvermögen aus der alten Zeit noch vorhanden war, das die nicht angerührten Bestände in der Zwischenzeit unverändert brach lagen. Außerdem war das Gesammelte, das Annette allmonatlich nach Hause gebracht hatte – sie selbst hatte nur ein paar Reste für sich behalten -, nicht vollständig aufgebraucht worden und hatte sich zu einem kleinen Vorrat angesammelt. Annette, an ihrer Schneise, nickte eifrig, erfreut über diese unerwartete Vorsicht und Sparsamkeit. Eigentlich hätte sie ja mit diesen überschüssigen Ansammlungen die Schuld des Vaters gegenüber dem Vorgesetzten der Forstschabe weiter abtragen können, und jeder Tag, an dem sie diesen Posten hätte loswerden können, wäre weit besser gewesen, aber jetzt war es zweifellos besser so, wie es der Vater eingerichtet hatte.
Nun genügte dieses Angesammelte aber ganz und gar nicht, um die Familie davon leben zu lassen; es genügte vielleicht, um die Familie, ein, höchstens zwei Monate zu erhalten, mehr war es nicht. Es war also bloß eine Menge, die man eigentlich nicht angreifen durfte, und die für den Notfall zurückgelegt werden musste; das zum Leben Angesammelte aber musste man verdienen. Nun war aber der Vater eine zwar gesunde, aber alte Schabe, die schon fünf Monate nichts gearbeitet hatte und sich jedenfalls nicht viel zutrauen durfte; er hatte in diesen fünf Monaten, welche die ersten Ferien seines mühevollen und doch erfolglosen Lebens waren, viel Fett angesetzt und war dadurch recht schwerfällig geworden. Und die alte Mutter sollte a ernstlich sammeln gehen, die an Gelenksteifigkeit litt, der eine Wanderung durch die Schneise schon Anstrengung verursachte, und die jeden zweiten Tag steif auf den Blättern der Hauptschneise ruhte? Und der Bruder sollte sammeln gehen, der noch ein Kind war mit seinen zwei Monaten, und dem seine bisherige Lebensweise so sehr zu gönnen war, die daraus bestanden hatte, nett herumzukrabbeln, lange zu schlafen, in der Schneise mitzuhelfen, an ein paar bescheidenen Vergnügungen sich zu beteiligen und vor allem herumzuzirpen? Wenn die Rede auf diese Notwendigkeit des Sammelns kam, schob sich immer Annette zur Schneise und deckte sich mit Blättern zu, denn ihr war ganz kalt vor Beschämung und Trauer.
Oft lag sie dort die ganzen langen Nächte über, schlief keinen Augenblick und kauerte nur stundenlang herum. Oder sie scheute nicht die große Mühe, sich vollständig mit Blätter zu bedecken, offenbar nur in irgendeiner Erinnerung an das Befreiende, das früher für sie darin gelegen war. Zudem sah sie nun alles viel schärfer und intensiver, so als ob ihre ganze Wahrnehmung sich erschreckend ausgeweitet hätte. Gleichzeitig verspürte sie einen beunruhigend verkümmerten Geruchs- und Geschmackssinn, insbesondere beim Kontakt mit den Blättern wie auch mit allen anderen Strukturen des Waldbodens und der Schneise.
Hätte Annette nur mit dem Bruder sprechen und ihm für alles danken können, was er für sie machen musste, sie hätte seine Dienste leichter ertragen; so aber litt sie darunter. Der Bruder suchte freilich die Peinlichkeit des Ganzen möglichst zu verwischen, und je längere Zeit verging, desto besser gelang es ihm natürlich auch, aber auch Annette durchschaute mit der Zeit alles viel genauer. Schon sein Herankrabbeln an die Schneise war für sie schrecklich. Kaum war er an sie herangetreten, zuckte sie, ohne sich Zeit zu nehmen, in sich zusammen. Mit diesem Zucken und Kauern erschreckte ihn Annette täglich zweimal; die ganze Zeit über zitterte sie unter den Blättern und wusste doch sehr gut, dass er sie gewiss gerne damit verschont hätte, wenn es ihm nur möglich gewesen wäre, auch in die Schneise, in der sich Annette befand, zu gelangen.
Einmal, es war wohl schon ein Monat seit Annettes Verwandlung vergangen, und es war doch schon für den Bruder kein besonderer Grund mehr, über Annettes Aussehen in Erstaunen zu geraten, kam er ein wenig früher als sonst und traf Annette noch an, wie sie, unbeweglich und so recht zum Erschrecken aufgesetzt, aus der Schneise blickte. Es wäre für Annette nicht unerwartet gewesen, wenn er nicht näher gekommen wäre, da sie ihn durch ihre Stellung verhinderte, sofort weiter in die Schneise vorzudringen, aber er rückte nicht nur nicht vor, er fuhr sogar zurück und krabbelte von dannen; ein Fremder hätte geradezu denken können, Annette habe ihm aufgelauert und habe ihn zerdrücken wollen. Annette kauerte sich natürlich sofort wieder zusammen, aber sie musste bis zum Mittag warten, ehe der Bruder wiederkam, und er schien viel unruhiger als sonst. Sie erkannte daraus, dass ihm ihr Anblick noch immer unerträglich war und ihm auch weiterhin unerträglich bleiben müsse, und dass er sich wohl sehr überwinden müsse, vor dem Anblick auch nur der kleinen Partie seines Körpers nicht davon zu krabbeln. Um ihm auch diesen Anblick zu ersparen, trug sie eines Tages auf ihrem Rücken – sie brauchte zu dieser Arbeit viele Stunden – ein dichtes Blattkleid und ordnete es in einer solchen Weise an, dass sie nun gänzlich verdeckt war, und dass ihr Bruder, selbst wenn er in die Schneise krabbelte, sie nicht sehen konnte. Wäre das Blattkleid seiner Meinung nach nicht nötig gewesen, dann hätte er es ja entfernen können, Stück für Stück, denn dass es nicht zum Vergnügen Annettes gehören konnte, sich so ganz und gar abzusperren, war doch klar genug, aber er ließ das Blattkleid, so wie es war, und Annette glaubte sogar einen dankbaren Blick erhascht zu haben, als sie ihren Körper mit dem Kopf einmal vorsichtig darunter hervorbewegte, um nachzusehen, wie der Bruder die neue Einrichtung aufnahm.
In den ersten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über sich bringen, zu ihr hin zu krabbeln, und sie hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit des Bruders völlig anerkannten, während sie sich bisher häufig über den Bruder geärgert hatten, weil er ihnen als eine etwas nutzlose Schabe erschienen war. Nun aber warteten oft beide, der Vater und die Mutter, vor Annettes Schneise, während der Bruder dort aufräumte, und kaum war er herausgekrabbelt, musste er ganz genau erzählen, wie es in der Schneise aussah, was Annette gefressen hatte, wie sie sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine Besserung zu bemerken war. Die Mutter übrigens wollte verhältnismäßig bald Annette besuchen, aber der Vater und der Bruder hielten sie zuerst mit Vernunftgründen zurück, denen Annette sehr aufmerksam zuhörte, und die sie vollständig billigte. Später aber musste man sie mit Gewalt zurückhalten, und wenn er dann rief: „Lasst mich zu Annette, sie ist ja meine unglückliche Tochter! Begreift ihr es denn nicht, dass ich zu ihr muss?“, dann dachte Annette, dass es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter herankrabbelte, nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche; sie verstand doch alles viel besser als der Bruder, der trotz all seines Mutes nur aus kindlichem Leichtsinn eine so schwere Aufgabe übernommen hatte.
Der Wunsch Annettes, die Mutter zu sehen, ging bald in Erfüllung. Während des Tages wollte Annette schon aus Rücksicht auf ihre Eltern sich nicht am Schneisenrand zeigen, sich aufrichten konnte sie sich auf dem engen Raum auch nicht, das ständige ruhige Liegen ertrug sie aber wiederum schon während der Nacht schwer, das Fressen machte ihr bald nicht mehr das geringste Vergnügen, und so nahm sie zur Zerstreuung die Gewohnheit an, ihre Arme und Beine hoch und runter, vor und zurück nach allen Himmelsrichtungen hin auszustrecken. Besonders nach den Ästen der hohen Bäume griff sie gern, es war ganz anders, als das ruhige Liegen mit den eng an den Körper gelegten Gliedmaßen, man atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper; und in der fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich Annette dort oben, hoch aufgerichtet, befand, konnte es geschehen, dass sie zu ihrer eigenen Überraschung weitere Schritte in Richtung Wald unternahm. Aber nun hatte sie natürlich ihren Körper ganz anders in der Gewalt als früher und vermochte daher ohne Probleme innerhalb weniger Schritte gewaltige Distanzen zurückzulegen. Der Bruder nun bemerkte sofort die neue Unterhaltung, die Annette für sich gefunden hatte – sie hinterließ ja auch beim Gehen teilweise tiefe, in jedem Fall aber große und breite Spuren auf dem Waldboden -, und da setzte er es sich in den Kopf, Annette das Gehen in größeren Maßstäben zu ermöglichen und alle spitzen und unangenehmen Partikel auf dem Waldboden, die es erschweren konnten, wegzutragen. Doch den Vater wagte er nicht um Hilfe zu bitten; so blieb dem Bruder also nichts übrig, als einmal in Abwesenheit des Vaters die Mutter zu holen. Mit Ausrufen erregter Freude kam die Mutter auch herangekrabbelt, verstummte aber am Schneisenrand. Zuerst sah natürlich der Bruder nach, ob alles in Ordnung war; dann erst ließ er die Mutter heran. Annette war inzwischen wieder lägrig geworden und hatte in größter Eile das Blattkleid über sich gezogen. Annette unterließ auch diesmal, unter dem Blattkleid zu spionieren; sie verzichtete darauf, die Mutter schon diesmal zu sehen, und war nur froh, dass sie nun doch gekommen war. „Komm nur, man sieht sie nicht“, sagte der Bruder, und offenbar führte er die Mutter eng an sich gebunden heran. Annette nun hörte, wie die zwei schwachen Schaben die immerhin vielschichtigsten Partikel auf dem Waldboden hinwegtrugen, und wie der Bruder immerfort den größten Teil der Arbeit für sich beanspruchte, ohne auf die Warnungen der Mutter zu hören, welche fürchtete, dass er sich überanstrengen werde. Es dauerte sehr lange. Wohl nach schon viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter, man solle die Partikel doch lieber hier lassen, denn erstens seien es zu viele, sie würden vor der Ankunft des Vaters nicht fertig werden und den ganzen Rest der Schneise mit Reisig und Abfällen übersähen, zweitens aber sei es doch gar nicht sicher, dass Annette mit der Entfernung der Partikel ein Gefallen geschehe. Ihr scheine das Gegenteil der Fall zu sein; ihr bedrücke der Anblick des leeren Bodens geradezu das Herz; und warum solle nicht auch Annette diese Empfindung haben, da sie doch an die Partikel längst gewöhnt sei und sich deshalb auf dem leeren Boden verlassen fühlen werde. „Und ist es dann nicht so“, schloss die Mutter ganz leise, wie sie überhaupt fast flüsterte, als wolle sie vermeiden, dass Annette, deren genauen Aufenthalt sie ja nicht kannte, auch nur den Klang der Stimme höre, denn dass sie die Worte nicht verstand, davon war sie überzeugt, „und ist es nicht so, als ob wir durch die Entfernung der Partikel zeigten, dass wir jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und sie rücksichtslos sich selbst überlassen? Ich glaube, es wäre das beste, wir suchen die Schneise genau in dem Zustand zu erhalten, in dem sie früher war, damit Annette, wenn sie wieder zu uns zurückkommt, alles unverändert findet und umso leichter die Zwischenzeit vergessen kann.“
Beim Anhören dieser Worte der Mutter erkannt Annette, dass der Mangel jeder unmittelbaren schabischen Ansprache, verbunden mit dem einförmigen Leben inmitten der Familie, im Laufe dieser zwei Monate ihren Verstand hatte verwirren müssen, denn anders konnte sie es sich nicht erklären, dass sie ernsthaft hatte verlangen können, dass ihre Schneise gesäubert würde. Hatte sie wirklich Lust, die natürliche, mit Reisig und Insektenresten ausgestattete Schneise in einen sterilen Raum verwandeln zu lassen, in dem sie dann freilich nach allen Richtungen ungestört würde auf- und ablaufen können, jedoch auch unter gleichzeitigem, schnellen, gänzlichen Vergessen ihrer Schabenvergangenheit? War sie doch jetzt schon nahe daran, zu vergessen, und nur die seit langem nicht gehörte Stimme der Mutter hatte sie aufgerüttelt. Nichts sollte entfernt werden; alles musste bleiben; die guten Einwirkungen der Partikel auf ihren Zustand konnte sie nicht entbehren; und wenn die Partikel sie am Laufen hinderten, so war es kein Schaden, sondern ein großer Vorteil.
Aber der Bruder war leider anderer Meinung; er hatte sich, allerdings nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Besprechung der Angelegenheiten Annettes als besonders Sachverständiger gegenüber den Eltern aufzutreten, und so war auch jetzt der Rat der Mutter für den Bruder Grund genug, auf der Entfernung nicht nur der gröberen Partikel, sondern auch der feineren, zu bestehen. Es war natürlich nicht nur kindlicher Trotz und das in der letzten Zeit so unerwartet und schwer erworbene Selbstvertrauen, das ihn zu dieser Forderung bestimmte; er hatte doch auch tatsächlich beobachtet, dass Annette viel Raum zum Laufen brauchte und die Partikel, soweit man sehen konnte, ihr unter den nackten Füßen Schmerzen beim Auftreten bereiteten. Vielleicht aber spielte auch der verunsicherte Sinn der Jungen seines Alters mit, der bei jeder Gelegenheit seine Befriedigung sucht, und durch den der Bruder jetzt sich dazu verlocken ließ, die Lage Annettes noch schreckenerregender machen zu wollen, um dann noch mehr als bis jetzt für sie leisten zu können. Denn in einer Schneise, in der Annette ganz allein auf dem Boden laufen konnte, würde wohl keine Schabe außer ihm jemals hineinzukrabbeln sich getrauen.
Und so ließ er sich von seinem Entschluss durch die Mutter nicht abbringen, die auch in dieser Schneise vor lauter Unruhe unsichtbar schien, bald verstummte und dem Bruder nach Kräften beim Wegtragen der Partikel half. Und kaum hatten sie damit begonnen, als sich Annette unter dem Blattkleid streckte, um zu sehen, wie sie vorsichtig und möglichst rücksichtsvoll eingreifen könnte. Aber zum Unglück war es gerade die Mutter, welche zuerst zurückkehrte, während der Bruder noch am äußeren Rand der Blattschneise verharrte. Die Mutter aber war Annettes Anblick nicht gewöhnt, sie hätte sie krank machen können, und so bedeckte sich Annette rasch wieder mit dem Blattkleid, konnte es aber nicht verhindern, dass dieses vorne ein wenig sich bewegte. Das genügte, um die Mutter aufmerksam zu machen. Sie stockte, stand einen Augenblick still und krabbelte dann zum Bruder zurück.
Trotzdem sich Annette immer wieder sagte, dass ja nichts Außergewöhnliches geschehe, sondern nur ein paar Partikel weggeschafft würden, wirkte doch, wie sie sich bald eingestehen musste, dieses Hin- und Herwuseln der Schaben, ihre kleinen Zurufe, das Klackern der Partikel auf dem Boden, wie ein großer, von allen Seiten genährter Trubel auf sie, und sie musste sich, so fest sie Kopf und Beine an sich zog, um sich zusammenzukauern, unweigerlich sagen, dass sie das Ganze nicht lange aushalten werde. Sie räumten ihr ihre Schneise leer; nahmen ihr alles, was ihr lieb war; die Partikel, das Reisig, die Insektenreste und deren Exkremente; da hatte sie wirklich keine Zeit mehr, die guten Absichten zu prüfen, welche die beiden Schaben hatten, deren Existenz sie übrigens fast vergessen hatte, denn vor Erschöpfung arbeiteten sie schon stumm, und man hörte nur das leichte Rascheln ihrer Beinchen.
Und so brach sie denn hervor – die Schaben krabbelten gerade in der Nebenschneise umher, um ein wenig zu ruhen -, wechselte viermal die Richtung des Laufes, und wusste wirklich nicht, was sie zuerst retten sollte, da sah sie am Grund des Waldes den schönen Weberknechtkopf einer trockenen Beute von einst, bewegte sich darauf zu und aß ihn auf, so, dass es ihrem Bauch wohltat. Sie verdrehte den Kopf nach dem Schneisenrand, um die Schaben bei ihrer Rückkehr zu beobachten.
Sie hatten sich nicht viel Ruhe gegönnt und kamen schon wieder; der Bruder krabbelte eng neben der Mutter und trug sie fast. „Also, was nehmen wir jetzt“ sagte er und sah sich um. Da kreuzten sich seine Blicke mit denen Annettes, die wieder seitlich auf dem Schneisenboden lag. Wohl nur infolge der Gegenwart der Mutter behielt er ihre Fassung, beugte sein Gesicht zur Mutter, um diese vom Herumschauen abzuhalten, und sagte, allerdings zitternd und unüberlegt: „Komm, wollen wir nicht lieber auf einen Augenblick noch in die Nebenschneise zurückkrabbeln?“ Die Absicht des Bruders war für Annette klar, er wollte die Mutter in Sicherheit bringen und dann Annette vom Boden aufscheuchen. Nun, er konnte es ja immerhin versuchen! Sie lag auf ihrem Blätterkleid, nun ungeschützt.
Aber des Bruders Worte hatten die Mutter erst recht beunruhigt, sie trat zur Seite, erblickte den riesigen Leib, rief, ehe ihr eigentlich zum Bewusstsein kam, dass das Annette war, was sie sah, mit schreiender, rauer Stimme: „Ach Gott, ach Gott!“ und krabbelte mit ausgebreiteten Fühlern, als gebe sie alles auf, über den Schneisenrand zurück. „Du, Annette!“ rief der Bruder mit erhobenen Fühlern und eindringlichen Blicken. Es waren seit der Verwandlung die ersten Worte, die er unmittelbar an sie gerichtet hatte. Er krabbelte in die Nebenschneise, um irgendetwas zu holen, mit dem er die Mutter aus ihrer Ohnmacht wecken könnte; Annette wollte auch helfen, richtete sich auf und machte dann einen Schritt in die Nebenschneise, als könne sie dem Bruder irgendeinen Rat geben, wie in früher Zeit; musste dann aber untätig über ihm verharren während er erschreckte und sich angesichts einer drohenden Gefahr instinktiv in Annettes Fuß verbiss; die Beißwerkzeuge verletzten Annette leicht, doch mehr als die eigentliche Wunde spürte sie schon bald die säuerliche vom Bruder in die Wunde gespritzte Essenz, welche die Verletzung umfloss. Dann wuselte er zurück zur Mutter und beide entfernten sich schnell. Sie hatte jetzt nichts zu tun als zu warten; und von Selbstvorwürfen und Besorgnis bedrängt, begann sie wieder aufrecht zu laufen, lief auf und ab, bis an den Waldrand hin und fiel endlich in ihrer Verzweiflung auf den Boden zurück.
Es verging eine kleine Weile, Annette lag matt da, ringsherum war es still, vielleicht war das ein gutes Zeichen. Da raschelte es von draußen. Der Vater war gekommen. „Was ist geschehen?“ waren seine ersten Worte; des Bruder Aussehen hatte ihm wohl alles verraten. Der Bruder antwortete mit dumpfer Stimme, offenbar drückte er sein Gesicht an den Vater: „Die Mutter war ohnmächtig, aber es geht ihr schon besser. Annette ist ausgebrochen.“ „Ich habe es ja erwartet“, sagte der Vater, „ich habe es euch ja immer gesagt, aber ihr wollt nicht hören.“ Annette war es klar, dass der Vater ihres Bruders allzu kurze Mitteilung schlecht gedeutet hatte und annahm, dass Annette sich irgendeine Gewalttat habe zuschulden kommen lassen. Deshalb musste Annette den Vater jetzt zu besänftigen suchen, denn ihn aufzuklären hatte sie weder Zeit noch Möglichkeit. Und so lief sie zurück in ihre Schneise und kauerte sich wiederum flach auf den Boden, damit der Vater beim Herankrabbeln gleich sehen könne, dass Annette die beste Absicht habe, in der Blattschneise zu bleiben, und dass es nicht nötig sei, sie zurückzutreiben, sondern dass man nur an den Rand herankrabbeln brauche, und gleich werde sie verschwinden.
Aber der Vater war nicht in der Stimmung, solche Feinheiten zu bemerken; „Ah!“ rief er gleich beim Antritt in einem Tone, als sei er gleichzeitig wütend und froh. Annette zog den Kopf vom Schneisenrand zurück und hob ihn gegen den Vater. So hatte sie sich den Vater wirklich nicht vorgestellt, wie er jetzt da herum wuselte; allerdings hatte sie in der letzten Zeit über dem neuartigen Herumlaufen versäumt, sich so wie früher um die Vorgänge in der übrigen Schneise zu kümmern, und hätte eigentlich darauf gefasst sein müssen, veränderte Verhältnisse anzutreffen. Trotzdem, trotzdem, war das noch der Vater? Die gleiche Schabe, die müde in der Schneise vergraben lag, wenn früher Annette zu einer Sammelreise ausgerückt war; der sie an Abenden der Heimkehr schläfrig am Blatthaufen empfangen hatte; gar nicht recht imstande war, aufzustehen, sondern zum Zeichen der Freude nur die Fühler gehoben hatte, und der bei den seltenen gemeinsamen Ausgängen zwischen Annette und der Mutter, die schon an und für sich langsam krabbelten, immer noch ein wenig zurückblieb? Nun aber war er recht gut ausgestattet; unter den strammen Fühlern drang der Blick der schwarzen Augenpunkte frisch und aufmerksam hervor, die Mundwerkzeuge erschienen unerbittlich und kraftvoll. Er wusste wohl selbst nicht, was er vorhatte; immerhin hob er die Beinchen ungewöhnlich hoch, und Annette staunte über die Beweglichkeit seiner Gliedmaßen. Doch hielt sie sich dabei nicht auf, sie wusste ja noch vom ersten Tag ihres neuen Lebens her, dass der Vater ihr gegenüber nur die größte Strenge für angebracht ansah. Und so lief sie schließlich hoch über den Vater hinweg, stockte, wenn der Vater stehen blieb, und eilte schon wieder vorwärts, wenn sich der Vater nur rührte. So machten sie mehrmals die Runde in der Blattschneise, ohne dass sich etwas Entscheidendes ereignete, ja, ohne dass das Ganze trotz ihres hohen Tempos den Anschein einer Verfolgung gehabt hätte. Deshalb blieb auch Annette vorläufig in Lauerstellung, zumal sie fürchtete, der Vater könnte eine Flucht durch die Schneisenmitte nehmen oder ihre aufrechte Lage für besondere Bosheit halten. Allerdings musste sich Annette sagen, dass er dieses Krabbeln wohl nicht lange aushalten würde, denn während sie mühelos einen Schritt machte, musste er eine Unzahl von Bewegungen ausführen. Nervöses Hin- und Her schien sich schon bemerkbar zu machen, wie er ja auch in seiner früheren Zeit nicht allzu belastungsfähig gewesen war. Als sie nun so in kleinen Schritten über die Schneise lief, verspürte sie ein Kribbeln und Zittern an ihrem Arm. Es war der Vater, er war an ihr empor gekrochen und bis an ihren Oberkörper heraufgekrabbelt. Wenige Sekunden später sah sie ihn von Angesicht zu Angesicht, es war das Schwarze in seinen kleinen Augen, das sie jetzt vor sich sah; der Vater saß jetzt unmittelbar vor ihr auf ihrer Nase. Annette erschrak; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn der Vater hatte sich entschlossen, sich mit seinen kleinen, von Widerhaken übersäten Beinchen auf Annettes Nase festzusetzen. Annette beobachtete, wie der Vater auf dem linken Nasenflügel seine Mundwerkzeuge weitete und zum Biss ansetzte. Aus den Eingeweiden heraus holte er allen sauren Speichel heraus und biss das säuerliche Sekret in Annettes linken Nasenflügel, mehrmals, ohne vorläufig genau zu zielen, dann immer systematischer. Die ersten Bisse verpufften noch weitgehend ohne Wirkung, ein zu schwach angesetzter Biss kitzelte Annette eher, ein ihm nachfolgender drang dagegen förmlich ins Innere von Annette ein; Annette wollte den Vater abschütteln, als könne der überraschende unglaubliche Schmerz dadurch gemildert werden; doch sie fühlte sich wie gelähmt und streckte sich in vollständiger Verwirrung aller Sinne zurück auf den Schneisenboden. Nur mit dem letzten Blick sah sie noch, wie die anderen Schaben von ihrer Schneise wichen, und vor dem schreienden Bruder die Mutter wegkrabbelte. Nun versagte aber Annettes Sehkraft schon, während Bruder und Mutter, die Fühler zum Vater gestreckt, um Schonung von Annettes Leben baten.
III
Die schwere Verwundung Annettes, an der sie über einen Monat litt – der Vater blieb, da ihn niemand zu entfernen wagte und er auch selbst sich offenbar untrennbar in Annettes Nase verbissen hatte, noch mehrere Stunden in ihrem Fleische sitzen, bevor er sich nachts davon ablöste – schien dennoch auch ihn, den Vater, daran erinnert zu haben, dass Annette trotz ihrer gegenwärtigen traurigen und ekelhaften Gestalt ein Familienmitglied war, das man nicht wie einen Feind behandeln durfte, sondern dem gegenüber es das Gebot der Familienpflicht war, den Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als zu dulden.
Und wenn nun auch Annette durch ihre Wunde an Kraft wahrscheinlich erheblich verloren hatte und vorläufig zur Blattlägrigkeit verdammt war, so bekam sie für diese Verschlimmerung ihres Zustandes einen ihrer Meinung nach vollständig genügenden Ersatz dadurch, dass immer gegen Abend an der Schneisengrenze, die sie schon ein bis zwei Stunden vorher scharf zu beobachten pflegte, die ganze Familie beim Blattreisighaufen wuseln sah und ihre Reden, gewissermaßen mit allgemeiner Erlaubnis, also ganz anders als früher, anhören durfte.
Freilich waren es nicht mehr die lebhaften Unterhaltungen der früheren Zeiten, an die Annette in den diversen Unterwegsschneisen stets mit gleichem Verlangen gedacht hatte, wenn sie sich müde in das feuchte Blattzeug hatte wickeln müssen. Es ging jetzt meist nur sehr still zu. Der Vater schlief bald nach dem Nachtfressen ein; die Mutter und der Bruder ermahnten einander zur Stille; die Mutter wuselte, der Bruder zirpte in Übungen, um vielleicht später doch einmal eine aussichtsreichere Stellung bei den Grillen zu erlangen. Manchmal wachte der Vater auf, und als wisse er gar nicht, dass er geschlafen habe, sagte er zum Bruder: „Wie lange du heute wieder zirpst!“ und schlief sofort wieder ein, während Mutter und Bruder einander müde zulächelten.
Sobald das Licht im Wald gänzlich verschwunden war, suchte die Mutter durch leise Zusprache den Vater zu wecken und dann zu überreden, ins Bett zu gehen, denn hier war es doch kein richtiger Schlaf und diesen hatte der Vater, der früh morgens seinen Dienst antreten musste, äußerst nötig. Aber in dem Eigensinn, der ihn, seitdem er Dienstschabe war, ergriffen hatte, bestand er immer darauf, noch länger zu bleiben, trotzdem er regelmäßig einschlief, und war dann überdies nur mit der größten Mühe zu bewegen, in seine Schneise zu kriechen. Da mochten Mutter und Bruder mit kleinen Ermahnungen noch so sehr auf ihn eindringen, viertelstundenlang schüttelte er langsam den Kopf, hielt die Augen geschlossen und stand nicht auf. Die Mutter stubste ihn an, der Bruder half, aber beim Vater verfing das nicht. Er versank nur noch tiefer im Blattreisig. Erst bis ihn beide Schaben von unten anhoben, schlug er die Augen auf, sah abwechselnd Mutter und Bruder an und pflegte zu sagen: „Das ist ein Leben. Das ist die Ruhe der alten Tage.“ Und auf die beiden gestützt, erhob er sich, umständlich, als sei er für sich selbst die größte Last, ließ sich von beiden zur Schneise führen, winkte ihnen dort ab und krabbelte selbstständig weiter.
Wer hatte in dieser abgearbeiteten und übermüdeten Familie Zeit, sich um Annette mehr zu kümmern, als unbedingt nötig war? Die täglichen Abläufe wurden immer mehr eingeschränkt. Es geschah sogar, dass die verschiedenen Sammelstücke aus dem Nachlass, welche früher die Mutter und der Bruder überglücklich bei Unterhaltungen und Feierlichkeiten ausgeräumt hatten, gegen andere Dingen getauscht wurden, wie Annette am Abend aus der allgemeinen Besprechung der erzielten Gewinne erfuhr. Die größte Klage war aber stets, dass man diese für die gegenwärtigen Verhältnisse allzu große Schneise nicht verlassen konnte, da es nicht auszudenken war, wie man Annette übersiedeln sollte. Aber Annette sah wohl ein, dass es nicht nur die Rücksicht auf sie war, welche eine Übersiedlung verhinderte, denn sie hätte man doch in einer passenden Nacht- und Nebelaktion in wenigen Schritten leicht transportieren können; was die Familie hauptsächlich vom Schneisenwechsel abhielt, war vielmehr die völlige Hoffnungslosigkeit und der Gedanke daran, dass sie mit einem Unglück geschlagen war, wie sonst niemand im ganzen Verwandten- und Bekanntenkreis im Forst. Die Wunde an Annettes Nase fing sie wie neu zu schmerzen an, wenn Mutter und Bruder, nachdem sie den Vater zu Bett gelegt hatten, nun zurückkehrten, schon Seite an Seite wuselten; wenn jetzt die Mutter, auf Annettes Schneise weisend, sagte: „Mach’ dort die Blätter dicht,“ und wenn nun Annette wieder im Dunkeln war, während nebenan Mutter und Bruder ihre Tränen vermischten oder gar tränenlos den Reisighaufen anstarrten.
Die Nächte und Tage verbrachte Annette fast ganz ohne Schlaf. Manchmal dachte sie daran, beim nächsten Rascheln an der Schneise die Angelegenheiten der Familie ganz so wie früher wieder in die Hand zu nehmen; in ihren Gedanken erschienen wieder nach langer Zeit der Vorgesetzte und die Forstschabe, erschienen untermischt mit Fremden oder schon Vergessenen, aber statt ihr und ihrer Familie zu helfen, waren sie sämtlich unzugänglich, und sie war froh, wenn sie verschwanden. Dann aber war sie wieder gar nicht in der Laune, sich um ihre Familie zu sorgen, bloß Wut über die schlechte Wartung erfüllte sie, und trotzdem sie sich nichts vorstellen konnte, worauf sie Appetit gehabt hätte, machte sie doch Pläne, wie sie an Fressen gelangen könnte, um zu bekommen, was ihr, auch wenn sie keinen Hunger hatte, immerhin gebührte. Ohne jetzt mehr nachzudenken, womit man Annette einen besonderen Gefallen machen könnte, schob der Bruder eiligst, ehe er morgens und mittags zum Forst wuselte, mit den Beinchen irgendeine beliebige Speise an Annettes Schneise heran, um sie am Abend, gleichgültig dagegen, ob die Speise vielleicht nur verkostet oder – der häufigste Fall – gänzlich unberührt, wieder wegzutragen. Das Aufräumen der Schneise, das er nun immer abends besorgte, konnte gar nicht mehr schneller getan sein. Partikelspuren zogen sich durch die Schneise, hier und da lagen Knäuel von Hautschuppen. In der ersten Zeit stellte sich Annette bei der Ankunft des Bruders in derartige hohe Aufrechtpositionen, um ihm durch diese Stellung quasi einen Vorwurf zu machen. Aber sie hätte wohl wochenlang so bleiben können, ohne dass sich der Bruder gebessert hätte; er sah ja die Hautschuppen ganz genau so wie sie, aber er hatte sich eben entschlossen, sie zu lassen. Dabei wachte er mit einer an ihm ganz neuen Empfindlichkeit, die überhaupt die ganze Familie ergriffen hatte, darüber, dass das Aufräumen von Annettes Schneise ihm vorbehalten blieb. Einmal hatte die Mutter Annettes Schneise einer großen Reinigung unterzogen, die ihr nur nach stundenlangen Wegtragens von Partikeln gelungen war, aber die Strafe blieb für die Mutter nicht aus. denn kaum hatte am Abend der Bruder die Veränderung in Annettes Schneise bemerkt, als er, aufs höchste beleidigt, in die Nebenschneise krabbelte und, trotz der beschwörend erhobenen Fühler der Mutter, in einen Weinkrampf ausbrach, dem die Eltern – der Vater war natürlich vom Reisighaufen aufgeschreckt worden – zuerst erstaunt und hilflos zusahen, bis auch sie sich zu rühren anfingen; der Vater rechts der Mutter Vorwürfe machte, dass sie Annettes Schneise nicht dem Bruder zur Reinigung überließ; links dagegen den Bruder anschrie, er werde niemals mehr Annettes Schneise reinigen dürfen; während die Mutter den Vater, der sich vor Erregung nicht mehr kannte, in die Schlafschneise zu schleppen suchte; der Bruder, von Schluchzen geschüttelt, mit seinen kleinen Beinchen am Reisig raschelnd; und Annette laut vor Wut darüber zischte, dass es keinem einfiel, sich von der Schneise zu entfernen, und ihr diesen Anblick zu ersparen.
Aber selbst wenn der Bruder, erschöpft von seiner Arbeit, dessen überdrüssig geworden war, für Annette, wie früher, zu sorgen, so hätte noch keineswegs die Mutter für ihn eintreten müssen und Annette hätte doch nicht vernachlässigt werden brauchen. Denn nun war eine Aushilfsschabe da. Diese alte Schabe, die in ihrem langen Leben mit Hilfe ihres starken Panzerbaus das Ärgste überstanden haben mochte, hatte keinen eigentlichen Abscheu vor Annette. Ohne irgendwie neugierig zu sein, hatte sie zufällig einmal die Schwelle zu Annettes Schneise überquert und war im Anblick Annettes, die, gänzlich überrascht, trotzdem sie niemand jagte, hin und herzulaufen begann, die Hände im Schoß gefaltet, staunend stehen geblieben. Seitdem versäumte sie nicht, stets flüchtig morgens und abends ein wenig an der Schneise zu rascheln und zu Annette hineinzuschauen. Anfangs rief sie sie auch zu sich herbei, mit Worten, die sie wahrscheinlich für freundlich hielt, wie „Komm mal herüber, mieses Säugetier!“ oder „Seht mal das alte Säugetier!“ Auf solche Ansprachen antwortete Annette mit nichts, sondern blieb unbeweglich an ihrem Platz. Hätte man doch dieser Aushilfsschabe, statt sie nach ihrer Laune sie nutzlos stören zu lassen, lieber den Befehl gegeben, ihre Schneise täglich zu reinigen! Einmal am frühen Morgen – ein heftiger Regen, vielleicht schon ein Zeichen des kommenden Frühjahrs, schlug durch die Baumkronen – war Annette, als die Bedienerin mit ihren Redensarten wieder begann, derartig erbittert, daß sie, wie zum Angriff, allerdings langsam und hinfällig, sich erhob und sich von oben herab gegen sie wendete. Die Aushilfsschabe aber, statt sich zu fürchten, keifte bloß mit groß geöffneten Mundwerkzeugen vor ihr und drohte mit weiteren Bissen: »Also weiter geht es nicht?« fragte sie, als Annette sich wieder umdrehte, und zog sich ihrerseits in die Nebenschneise zurück.
Annette aß nun fast gar nichts mehr. Nur wenn sie zufällig an der vorbereiteten Speise vorüberkam, nahm sie zum Spiel einen Bissen in den Mund, hielt ihn dort stundenlang und spie ihn dann meist wieder aus. Zuerst dachte sie, es sei die Trauer über den Zustand ihrer Schneise, die sie vom Essen abhalte, aber gerade mit den Veränderungen der Schneise söhnte sie sich sehr bald aus. Man hatte sich angewöhnt, Partikel, die man anderswo nicht unterbringen konnte, in ihre Schneise hineinzubringen, und solcher Partikel gab es nun viele, da man eine Schneise der Gesamtparzelle an drei Durchreisekäfer vermietet hatte. Diese ernsten Käfer – alle drei hatten gewaltige geweihähnliche Oberkiefer, wie Annette einmal durch flüchtiges Hineinsehen in die Nebenschneise feststellte – waren peinlich auf Ordnung, nicht nur in ihrer Schneise, sondern, da sie sich nun einmal hier eingemietet hatten, in der ganzen Parzelle bedacht. Unnützen oder gar schmutzigen Kram ertrugen sie nicht. Überdies hatten sie zum größten Teil ihre eigenen Partikel mitgebracht. Aus diesem Grunde waren viele Partikel überflüssig geworden. Alle diese wanderten in Annettes Schneise. Ebenso auch Kotschalen und das Sekret aller Eingenisteten. Was nur im Augenblick unbrauchbar war, schob die Aushilfsschabe, die es immer sehr eilig hatte, einfach in Annettes Schneise; Annette sah glücklicherweise meist nur die betreffenden Partikel und die Fühler, die sie hielten. Die Aushilfsschabe hatte vielleicht die Absicht, bei Zeit und Gelegenheit die Partikel wieder zu holen oder alle insgesamt mit einemmal hinauszutragen, tatsächlich aber blieben sie dort liegen, wohin sie durch die erste Verschiebeaktion gekommen waren, wenn nicht Annette sich über den Abstellkram wand und ihn in Bewegung brachte, zuerst gezwungen, weil kein sonstiger Platz zum Laufen oder Kriechen frei war, später aber mit wachsendem Vergnügen, obwohl sie nach solchen Wanderungen, zum Sterben müde und traurig, wieder stundenlang stechende Schmerzen unter den Füßen empfand.
Da die Durchreisekäfer manchmal auch ihr Abendfressen zu Hause in der gemeinsamen Schneise einnahmen, blieb die Schneise zu Annette an manchen Abenden sorgfältig von Blattwerk isoliert, aber Annette verzichtete ganz leicht auf das Lauschen an der Schneise, hatte sie doch schon manche Abende, an denen sie geöffnet war, nicht ausgenutzt, sondern war, ohne daß es die Familie merkte, im dunkelsten Verborgenen ihrer Schneise gelegen. Einmal aber hatte die Aushilfsschabe die Schneise ungedeckt gelassen, und sie blieb so offen, auch als die Durchreisekäfer am Abend eintraten und angerichtet wurde. Sie machten es sich dort gemütlich, wo in früheren Zeiten der Vater, die Mutter und Annette gefressen hatten, entfalteten die Insektenschalen und begannen zu fressen. Sofort erschien die Mutter mit einer Schüssel frischen Sekrets und knapp hinter ihr der Bruder mit einer Schüssel hochgeschichteter Exkremente. Die Durchreisekäfer beugten sich über die vor sie hingestellten Schüsseln, als wollten sie sie vor dem Fressen prüfen, und tatsächlich zerschnitt der, welcher in der Mitte saß und den anderen zwei als Autorität zu gelten schien, mit seinen Kieferscheren ein Stück Exkrement noch auf der Schüssel, offenbar um festzustellen, ob es mürbe genug sei und ob es nicht etwa erneut von der Mutter vorgekaut werden solle. Er war befriedigt, und Mutter und Bruder, die gespannt zugesehen hatten, begannen aufatmend zu lächeln.
Die Familie selbst aß in der Abstellschneise. Trotzdem kam der Vater, ehe er in die Nebenschneise krabbelte, in diese Schneise herein und machte mit einer einzigen Verbeugung Rundgang um die Schüsseln. Die Durchreisekäfer erhoben sich sämtlich und murmelten etwas in ihre Scheren. Als sie dann allein waren, fraßen sie fast unter vollkommenem Stillschweigen. Sonderbar schien es Annette, daß man aus allen mannigfachen Geräuschen des Essens immer wieder ihre kauenden und malmenden Scheren heraushörte, als ob damit Annette gezeigt werden sollte, daß man Scheren brauche, um zu fressen, und daß man auch mit den schönsten zahnreichen Kiefern nichts ausrichten könne. „Ich habe ja Appetit«, sagte sich Annette sorgenvoll, »aber nicht auf diese Dinge. Wie sich diese Durchreisekäfer nähren, und ich komme um!“
Gerade an diesem Abend – Annette erinnerte sich nicht, während der ganzen Zeit das Zirpen gehört zu haben – ertönte es von der Nebenschneise her. Die Durchreisekäfer hatten schon ihr Nachtmahl beendet, der mittlere hatte einen kleinen Tannenzapfen hervorgezogen, an dem er sich gütlich tat, und nun saugten alle anderen auch daran. Als das Zirpen begann, wurden sie aufmerksam, erhoben sich und krabbelten zum Schneisenrand, an dem sie aneinandergedrängt stehen blieben. Man mußte sie in der Abstellschneise gehört haben, denn der Vater rief: „Ist den Käfern das Zirpen vielleicht unangenehm? Es kann sofort eingestellt werden.“ „Im Gegenteil“, sagte der mittlere der Käfer, „möchte die Schabe nicht zu uns hereinkommen und hier bei uns zirpen, wo es doch viel bequemer und gemütlicher ist?“ „O bitte“, rief der Vater, als sei er der Zirpende. Die Käfer krabbelten in die Nebenschneise zurück und warteten. Bald kam der Vater mit dem Notenpult, die Mutter mit den Noten und der zirpende Bruder. Der Bruder bereitete alles ruhig vor; die Eltern, die niemals früher ihre Schneisen vermietet hatten und deshalb die Höflichkeit gegen die Durchreisekäfer übertrieben, wagten gar nicht, sich in ihre eigenen Schneisenmulden zu setzen; der Vater blieb am Rand der Abstellschneise, die Mutter aber erhielt von einem Käfer eine Blattmuschel angeboten und setzte sich dort hinein, abseits in einem Winkel.
Der Bruder begann zu zirpen; Vater und Mutter verfolgten, jeder von seiner Seite, aufmerksam seine Bewegungen. Annette hatte, von dem Zirpen angezogen, sich ein wenig weiter vorgewagt und war schon halb aufgerichtet neben der Schneise. Sie wunderte sich kaum darüber, daß sie in letzter Zeit so wenig Rücksicht auf die andern nahm; früher war diese Rücksichtnahme ihr Stolz gewesen. Und dabei hätte sie gerade jetzt mehr Grund gehabt, sich zu verstecken, denn infolge der Partikel, die in ihrer Schneise überall lagen und bei der kleinsten Bewegung umherflogen, war auch sie ganz staubbedeckt; Fäden, Haare, Exkremente und Sekretreste klebten überall auf ihrer Haut; ihre Gleichgültigkeit gegen alles war viel zu groß, als daß sie sich, wie früher mehrmals während des Tages, auf den Rücken gelegt und am Boden gesäubert hätte. Und trotz dieses Zustandes hatte sie keine Scheu, ein Stück auf dem makellosen Schneisenboden vorzurücken.
Allerdings achtete auch niemand auf sie. Die Familie war gänzlich vom Zirpen in Anspruch genommen; die Durchreisekäfer dagegen, die zunächst viel zu nahe hinter dem Notenpult des Bruder sich aufgestellt hatten, so daß sie alle in die Noten hätten sehen können, was sicher den Bruder stören mußte, zogen sich bald unter halblauten Gesprächen mit gesenkten Köpfen in eine Nische zurück, wo sie, vom Vater besorgt beobachtet, auch blieben. Es hatte nun wirklich den überdeutlichen Anschein, als wären sie in ihrer Annahme, ein schönes oder unterhaltendes Zirpen zu hören, enttäuscht, hätten die ganze Vorführung satt und ließen sich nur aus Höflichkeit noch in ihrer Ruhe stören. Besonders die Art, wie sie alle an ihrem abgelutschten Zapfen saugten, ließ auf große Nervosität schließen. Und doch zirpte der Bruder so schön. Sein Gesicht war zur Seite geneigt, prüfend und traurig folgten seine Fühler den Notenzeilen. Annette beugte den Oberkörper noch ein wenig zur Seite in Richtung der Nebenschneise und hielt den Kopf etwas schräg, so saß sie im Schneidersitz am Schneisenrand und konnte möglicherweise ihren Blicken begegnen. War sie ein Mensch, da sie Musik so ergriff? Ihr war, als zeige sich ihr der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung. Sie war entschlossen, bis zum Bruder vorzudringen, ihn am Fühler zu berühren und ihm dadurch anzudeuten, er möge doch zirpend in ihre Schneise kommen, denn niemand lohnte hier das Zirpen so, wie sie es lohnen wollte. Sie wollte ihn nicht mehr aus ihrer Schneise lassen, wenigstens nicht, solange sie lebte; ihre Schreckgestalt sollte ihr zum erstenmal nützlich werden; an allen Schneisenrändern wollte sie gleichzeitig sein und den Angreifern entgegenfauchen; der Bruder aber sollte nicht gezwungen, sondern freiwillig bei ihr bleiben; er sollte auf ihr sitzen, auf ihrer Schulter, nah an ihr Ohr gelegt, und sie wollte ihm dann anvertrauen, daß sie die feste Absicht gehabt habe, ihm das Zirpen ohne Einschränkungen ganz und gar zu ermöglichen. Nach dieser Erklärung würde der Bruder in Tränen der Rührung ausbrechen, und Annette würde sich bis zu seiner Mundöffnung herabbeugen und seine Fühler streicheln.
„Annette!“ rief der mittlere Käfer dem Vater zu und zeigte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit der großen Mundschere auf die langsam sich vorbeugende Annette. Das Zirpen verstummte, der mittlere Käfer lächelte erst einmal kopfschüttelnd seinen Freunden zu und sah dann wieder zu Annette auf. Der Vater schien es für nötiger zu halten, statt Annette zu vertreiben, vorerst die Durchreisekäfer zu beruhigen, trotzdem diese gar nicht aufgeregt waren und Annette sie mehr als das Zirpen zu unterhalten schien. Er eilte zu ihnen und suchte sie mit ausgebreiteten Fühlern in ihre Schneise zu drängen und gleichzeitig mit seinem Körper ihnen den Ausblick auf Annette zu nehmen. Sie wurden nun tatsächlich ein wenig böse, man wußte nicht mehr, ob über das Benehmen des Vaters oder über die ihnen jetzt aufgehende Erkenntnis, ohne es zu wissen, eine solche Schneisennachbarin wie Annette besessen zu haben. Sie verlangten vom Vater Erklärungen, hoben ihrerseits die Fühler, klapperten unruhig mit ihren Scheren und wichen nur langsam in ihre Schneise zurück. Inzwischen hatte der Bruder die Verlorenheit, in die er nach dem plötzlich abgebrochenen Zirpen verfallen war, überwunden, hatte in die Noten gesehen und sich mit einem Male aufgerafft, hatte sich der Mutter genähert, die in Atembeschwerden mit heftig arbeitenden Beinchen noch in ihrer Mulde lag, und war in die Nebenschneise gekrabbelt, der sich die Durchreisekäfer unter dem Drängen des Vaters schon schneller näherten. Man sah, wie unter den geübten Fühlern und Beinchen des Bruders zahlreiche Partikel in die Höhe flogen und sich ordneten. Noch ehe die Käfer die Schneise erreicht hatten, war er mit dem Aufräumen fertig und schlüpfte heraus. Der Vater schien wieder von seinem Eigensinn derartig ergriffen, daß er jeden Respekt vergaß, den er seinen Mietern immerhin schuldete. Er drängte nur und drängte, bis schon am Rand der Schneise der mittlere der Käfer donnernd mit den Scheren klapperte und dadurch den Vater zum Stehen brachte. „Ich erkläre hiermit“, sagte er, hob die Fühler und suchte mit den Blicken auch die Mutter und den Bruder, „daß ich mit Rücksicht auf die in dieser Schneise und Familie herrschenden widerlichen Verhältnisse“ – hierbei spie er kurz entschlossen auf den Boden – „meine Schneise augenblicklich kündige. Ich werde natürlich auch für die Tage, die ich hier gewohnt habe, nicht das Geringste bezahlen, dagegen werde ich es mir noch überlegen, ob ich nicht mit irgendwelchen – glauben Sie mir – sehr leicht zu begründenden Forderungen gegen Sie auftreten werde.“ Er schwieg und sah gerade vor sich hin, als erwarte er etwas. Tatsächlich fielen sofort seine zwei Freunde mit den Worten ein: „Auch wir kündigen augenblicklich.“ Darauf krabbelte er aus der Schneise heraus.
Der Vater wankte mit tastenden Fühlern zu seiner Mulde und ließ sich in sie fallen; es sah aus, als strecke er sich zu seinem gewöhnlichen Abendschläfchen, aber das starke Nicken seines wie haltlosen Kopfes zeigte, daß er ganz und gar nicht schlief. Annette war die ganze Zeit still auf dem Platz sitzen geblieben, an dem sie die Durchreisekäfer ertappt hatten. Die Enttäuschung über das Mißlingen ihres Planes, vielleicht aber auch die durch das viele Hungern verursachte Schwäche machten es ihr unmöglich, sich zu bewegen. Sie fürchtete mit einer gewissen Bestimmtheit schon für den nächsten Augenblick einen allgemeinen über sie sich entladenden Zusammensturz und wartete. Nicht einmal das noch einmal kurz aufkeimende Zirpen des Bruders schreckte sie auf.
„Liebe Eltern“, sagte der Bruder und raschelte zur Einleitung mit den Beinchen am Boden, „so geht es nicht weiter. Wenn ihr das vielleicht nicht einsehet, ich sehe es ein. Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meiner Schwester aussprechen, und sage daher bloß: wir müssen versuchen, es loszuwerden. Wir haben das Schabenmögliche versucht, es zu pflegen und zu dulden, ich glaube, es kann uns niemand den geringsten Vorwurf machen.“ „Er hat tausendmal Recht“, sagte der Vater für sich. Die Mutter, die noch immer nicht genug Atem finden konnte, fing mit einem irrsinnigen Ausdruck der Augen dumpf zu zittern an.
Der Bruder eilte zur Mutter und hielt ihr die Fühler. Der Vater schien durch die Worte des Bruders auf bestimmtere Gedanken gebracht zu sein, hatte sich aufrecht gesetzt und sah bisweilen auf die stillen Annette hin.
„Wir müssen es loszuwerden suchen“, sagte der Bruder nun ausschließlich zum Vater, denn die Mutter hörte in ihrem Zittern nichts, „es bringt euch noch beide um, ich sehe es kommen. Wenn man schon so schwer arbeiten muß, wie wir alle, kann man nicht noch zu Hause diese ewige Quälerei ertragen. Ich kann es auch nicht mehr.“ Und er brach so heftig in Weinen aus, daß seine Tränen auf das Gesicht der Mutter niederflossen, von dem er sie mit mechanischen Handbewegungen wischte.
„Kind“, sagte der Vater mitleidig und mit auffallendem Verständnis, „was sollen wir aber tun?“
Der Bruder ließ die Fühler sinken zum Zeichen der Ratlosigkeit, die ihn nun während des Weinens im Gegensatz zu seiner früheren Sicherheit ergriffen hatte.
„Wenn sie uns verstünde“, sagte der Vater halb fragend; der Bruder schüttelte aus dem Weinen heraus heftig die Beinchen zum Zeichen, daß daran nicht zu denken sei.
„Wenn sie uns verstünde“, wiederholte der Vater und nahm durch Schließen der Augen die Überzeugung der Schwester von der Unmöglichkeit dessen in sich auf, „dann wäre vielleicht ein Übereinkommen mit ihr möglich. Aber so – „
„Weg muß es“, rief der Bruder, „das ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Annette ist. Daß wir es solange geglaubt haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Annette sein? Wenn es Annette wäre, sie hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Schaben mit einem solchen Menschen nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keine Schwester, aber könnten weiter leben und ihr Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieser Mensch, vertreibt die Durchreisekäfer, will offenbar die ganze Schneise einnehmen und uns im Forst übernachten lassen. Sieh nur, Vater“, schrie er plötzlich auf, „sie fängt schon wieder an!« Und in einem für Annette gänzlich unverständlichen Schrecken verließ der Bruder sogar die Mutter, stieß sich förmlich aus seiner Mulde hervor, als wollte er lieber die Mutter opfern, als in Annettes Nähe bleiben, und krabbelte hinter den Vater, der, lediglich durch sein Benehmen erregt, auch hochschnellte und die Fühler wie zum Schutze des Bruders vor ihr halb erhob.
Aber Annette fiel es doch gar nicht ein, irgendjemandem und gar ihrem Bruder Angst machen zu wollen. Sie hatte bloß angefangen sich umzudrehen, um sich in ihre Schneise zurückzubewegen, und das nahm sich allerdings auffallend aus, da sie infolge ihres leidenden Zustandes bei den schwierigen Umdrehungen mit ihrem Körper gewaltige Schatten warf, die dem Rest der Familie erst jetzt die wahren Ausmaße ihres veränderten Aussehens zu offenbaren schienen. Sie hielt inne und sah sich um. Ihre gute Absicht schien erkannt worden zu sein; es war nur ein augenblicklicher Schrecken gewesen. Nun sahen sie alle schweigend und traurig an. Die Mutter lag, die Beinchen ausgestreckt und aneinandergedrückt, in ihrer Mulde, die Augen fielen ihr vor Ermattung fast zu; der Vater und der Bruder krabbelten nebeneinander, der Bruder hatte seine Fühler an die des Vaters gelegt.
„Nun darf ich mich schon vielleicht umdrehen“, dachte Annette und begann ihre Arbeit wieder. Sie konnte das Schnaufen der Anstrengung nicht unterdrücken und mußte auch hier und da ausruhen.
Im Übrigen drängte sie auch niemand, es war alles ihr selbst überlassen. Als sie die Umdrehung vollendet hatte, fing sie sofort an, sich wieder in ihre Schneise zu legen. Sie staunte über die geringe Entfernung, die sie von ihrer Schneise trennte, und begriff gar nicht, wie sie bei ihrer Schwäche vor kurzer Zeit den gleichen Weg, fast ohne es zu merken, zurückgelegt hatte. Immerfort nur auf rasche Wendungen und Kontorsionen ihrer Gliedmaße bedacht, achtete sie kaum darauf, daß kein Wort, kein Ausruf ihrer Familie sie störte.
Erst als sie schon am Rand der Schneise war, wendete sie den Kopf und sah, daß sich hinter ihr nichts verändert hatte, nur der Bruder war am Krabbeln. Ihr letzter Blick streifte die Mutter, die nun völlig eingeschlafen war.
Kaum war sie innerhalb ihrer Schneise, wurden von allen Beteiligten eifrig Blattreste und Partikel an den Rand der Schneise herangetragen. Über das plötzliche Rascheln hinter sich erschrak Annette so, daß ihr Schauer durch den Körper zuckten. Es war der Bruder, der sich so beeilt hatte, ihre Schneise von den anderen zu isolieren. Aufrecht war er schon da gestanden und hatte gewartet, leichtbeinig war er dann vorwärtsgekrabbelt, Annette hatte ihn gar nicht kommen hören, und ein „Endlich!“ rief er den Eltern zu, während er, zumindest an dem Annettes Längsseite zugewandten Schneisenrand einen beachtlichen Blätterwall errichtet hatte.
„Und jetzt?“ fragte sich Annette und sah sich im Dunkeln um. Sie machte bald die Entdeckung, daß sie alles an sich vollständig beweglich fand, überdies spürte sie zaghaft neue Kraft, so als ob ihr Körper allmählich die Kontrolle über all seine Funktionen und Steuerungen erlangen würde. Sie wunderte sich darüber nicht, eher kam es ihr unnatürlich vor, daß sie sich bis jetzt tatsächlich mit diesen klobigen Gliedmaßen nur so kümmerlich eingeschränkt bewegen konnte. Im Übrigen fühlte sie sich verhältnismäßig behaglich. Sie hatte zwar Schmerzen an den Füßen, aber ihr war, als würden diese allmählich schwächer und schwächer und schließlich ganz vergehen. Die Bisswunde in ihrer Nase und die entzündete Umgebung, die schon ein wenig von rotbrauner Kruste bedeckt war, spürte sie schon kaum. An ihre Familie dachte sie mit Rührung und Liebe zurück. Ihre Meinung darüber, daß sie verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener, als die ihres Bruders. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb sie, bis das Licht im Wald wieder dämmrig wurde. Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen erlebte sie in wachsender Aufmerksamkeit und Wachheit ihrer Sinne. Dann erhob sich ihr Kopf und unter einem beträchtlichen Rascheln erhob sie sich und schüttelte alle Blattreste von ihrem geschundenen, wenngleich doch nahezu kraftstrotzenden Leib.
Als am frühen Morgen die Aushilfsschabe kam, fand sie bei ihrem gewöhnlichen kurzen Besuch an Annettes Schneise zuerst nichts Besonderes. Sie dachte, sie liege nach wie vor unbeweglich da und spiele die Beleidigte; sie traute ihr allen möglichen Verstand zu. Weil sie zufällig mit ihren Fühlern nächtliche Partikel wegschob, bemerkte sie zunächst gar nicht die Absenz von Annettes Körper in der Schneise, zumal der vom Bruder am Vortag angehäufte Blattreigen vermuten ließ, dass irgendwo dort drunter Annettes widerwärtiger Menschenleib liegen musste; erst als sie näher an die Schneise herankrabbelte und bald den wahren Sachverhalt erkannte, machte sie große Augen, pfiff vor sich hin, hielt sich aber nicht lange auf, sondern krabbelte zur Nebenschneise und rief mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: „Sehen Sie nur mal an, es ist weg, da, ganz und gar ausgebüxt womöglich!“
Die Eltern hatten zu tun, den Schrecken über die Aushilfsschabe zu verwinden, ehe es dazu kam, ihre Meldung aufzufassen. Dann aber wuselten Vater und Mutter eiligst in die Schneise und traten an diejenige Annettes heran. Inzwischen hatte auch der Bruder sich dazugesellt, er war völlig frisch, als hätte er gar nicht geschlafen, auch sein geröteter Leib schien das zu beweisen. „Weg?“ sagte die Mutter und sah fragend zur Aushilfsschabe, trotzdem sie doch alles selbst prüfen und sogar ohne Prüfung erkennen konnte. „Nun“, sagte der Vater „jetzt können wir dankbar sein.“ Er seufzte und die drei anderen Schaben folgten seinem Beispiel.
Aus ihrer Schneise traten die drei Durchreisekäfer und sahen sich erstaunt nach ihrem Frühstück um; man hatte sie vergessen. „Wo ist das Frühstück?“ fragte der mittlere der Käfer mürrisch die Aushilfsschabe. Diese aber ließ die Fühler hängen und winkte dann hastig und schweigend den Käfern zu, sie möchten in Annettes Schneise kommen. Sie kamen auch und wuselten dann, die Scheren klappernd, in der nun schon ganz leeren Schneise herum. Die helle Sonne des Morgens schien nur ganz durch sie hindurch, doch plötzlich schien sich eine Wolke vor das grelle Licht zu schieben und große schattige Flecken breiteten sich über dem Boden aus. Einer der Durchreisekäfer sah als erster nach oben, doch ihm blieb kaum Zeit, aufmerksam das zu beobachten, was dort auf ihn zukam, im nächsten Moment stampfte es bebend auf dem trockenen Waldboden, der mittlere der drei Durchreisekäfer war zerdrückt. Jetzt begannen zuerst die beiden anderen Käfer panisch hin- und herzuwuseln, doch der Schock verhinderte, dass sie schnell genug fliehen konnten. Da wurden auch sie vom sich niederwälzenden Fuß Annettes zerquetscht. Die kurze Zwischenzeit, in der Annette die drei Durchreisekäfer zerdrückte, gab ihrer Familie mehr Zeit, zu reagieren. Jetzt zirpte der Bruder in aufgeregter höchster Tonlage, ein Zirpen, das für Annettes Ohren betäubend wirkte, so hoch erklang es darin. Die Aushilfsschabe nahm Annette als nächstes ins Visier, sie war etwas behäbig auf dem Weg in die Nebenschneise, kam aber nicht weit, unter dem entsetzten Anblick der Eltern zermalmte Annette auch knirschend den Körper der Aushilfsschabe. Ihr Fuß schmerzte jetzt wieder heftiger, doch weniger der Partikel wegen, als des beträchtlichen Drucks wegen, mit dem sie auf den Boden aufschlug und die ehemals ihren unter sich begrub.
Vater und Mutter hatten nachts beschlossen, den Tag zum Ausruhen und Spazierenkrabbeln zu verwenden; sie hatten diese Arbeitsunterbrechung nicht nur verdient, sie brauchten sie sogar unbedingt. Doch daran war nur nicht mehr zu denken, etwas verärgert war der Vater allein deshalb, da Annettes Handlung ihn daran hinderte, die Aushilfsschabe gleich heute zu entlassen, wie er es ja vorgehabt hatte, hatte sie doch von Annette allzu schlecht und herablassend gesprochen. In diesem Moment sah er die Mutter davonkrabbeln und wuseln, und er nahm sich vor, sie noch einmal zurückzuhalten, jetzt, wo Annette endlich vernünftig geworden zu sein schien, doch da ereilte die Mutter dasselbe Schicksal wie die Aushilfsschabe und die drei Durchreisekäfer, platt gemacht von dem klobigen großen Klotz Fleischhaufen, der einst ihre Tochter gewesen sein musste. Jetzt wurde er durchaus wieder ungehaltener und setzte sich in den Kopf, jede Nachlässigkeit gegenüber Annette endgültig fallen zu lassen. Ein neuerlicher Biss würde gleich Wirkung zeigen, doch Annettes Bewegungen, ihr immer schnelleres Stampfen über den Waldboden ihrer Schneise sowie das im gleichen Zuge hervorgerufene Beben, das den Boden wellenförmig durchströmte und auch ihn, den Vater, jetzt lähmte, all dies ließ seinen Zorn weiter anwachsen. Das letzte, was der Vater wahrnahm war die Ausrottung des Bruders, und als er an dessen platt gedrückten Leib herankrabbelte hörte er noch das traurige und doch auch in irgendeiner Weise nervenaufreibende Zirpen, das dieses ganze Unglück ja letztendlich in Gang gesetzt haben musste. Der Bruder hätte eine ganz prächtige Schabe abgeben können, wohl genährt und kraftvoll-widerstandsfähig, wenn nicht dieses vermaledeite Zirpen ihn derartig entfremdet hätte. Jetzt saß der Vater an den zerquetschten Resten seines Sohnes und wusste, dass schon im Laufe des Tages die Schaben vom Forst seine Überreste in die Sammelbestände überführen würden, die auch ihn und Annettes Familie genährt hatten. Die Undankbarkeit und der Verrat Annettes widerten ihn an, war sie nicht dank seiner und aller Hilfe erst so groß und stark geworden? Und wie zahlte sie es ihnen heim? Es war wie eine Bestätigung seiner alten Vorurteile Annette gegenüber, als am Ende seiner Tage eine Tochter ihn von oben herab fand, ihren jungen Menschenkörper auf den Boden ihrer alten Schneise aufschlagen ließ und den Schatten ihres Vaters mit einem Fußabdruck dem Waldboden gleichmachte.
März 2014, ©,® Frank Oliver